St. Gallen – Wer noch bis vor wenigen Jahren über China sprach, entzückte seine Zuhörer allein schon ob purer Masse, Gigantismus löste halt schon immer Begeisterung oder Ehrfurcht beim Menschen aus. Ich habe zum Beispiel mal bei einem Vortrag aufgeschnappt, China hätte in drei Jahren Bauboom so viel Beton verbaut, wie die USA im ganzen 20. Jahrhundert – konkret 6,6 Milliarden Tonnen. Schlichtweg unglaublich fand ich und hatte prompt das Gefühl, etwas verpasst zu haben, z.B. chinesische Bau- oder Immobilienaktien zu kaufen.
Doch das wäre seinerzeit schon zu spät gewesen, und der Börsencrash Chinas im Sommer 2015 hat bekanntlich die Euphorie der Finanzbranche über das Reich der Mitte gebremst und wieder etwas Platz gemacht für eine skeptischere Grundhaltung, sechs Milliarden Tonnen hin oder her. Eine zugegeben beindruckende Zahl, aber ist China deshalb zu bewundern? Kaum, vor allem nicht, wenn man sich vor Augen führt, dass dieser exorbitante Betonverbrauch in der schnellen Urbanisierung Chinas begründet liegt. Mehr als 20 Millionen Chinesen vollziehen jährlich die Landflucht in die Stadt. Doch wissen wir, dass nicht alle diesen Weg auch freiwillig gehen.
Vor lauter Euphorie über die Globalisierung, den Aufschwung von BRIC und Co. und den durch sie vermehrten Wohlstand, gehen leider zwei wesentliche Dinge vergessen. Zum einen ist die Welt reicher geworden, doch nur wenn man pro-Kopf-Zahlen von Einkommen oder Vermögen betrachtet. Deren Verteilung spricht nämlich dafür, dass der neu geschaffene Wohlstand recht einseitig verteilt wurde, was auch schon (mehrfach) Thema dieser Kolumne war. Zum anderen ist die Weltwirtschaft immer weniger frei, was daran liegt, dass sogenannt unfreie Länder immer mehr Gewicht auf die Waagschale des Weltsozialproduktes stemmen. Waren es zu Beginn des Jahrhunderts noch etwa 15%, steuern unfreie Staaten und deren Volkswirtschaften inzwischen fast 30% zum Welt-BIP bei, vornehmlich natürlich dank China aber nicht nur.
Dank der Ungerechtigkeit
Wie hat der Westen die Globalisierung zelebriert. Sie war willkommener Ersatz für die gesättigten Märkte der hochentwickelten Industriestaaten und wurde nie gross hinterfragt. Dabei gab es schon länger Anzeichen dafür, dass mit der Gewichtszunahme aufstrebender, politisch aber eher unstabiler Volkswirtschaften die Welt insgesamt nicht liberaler wird, sondern unfreier. Und doch wurden BRIC und all die anderen aufstrebenden Volkswirtschaften als Segen betrachtet. Vor allem nach der Finanzkrise sorgte deren rege Nachfrage dafür, dass die Weltwirtschaft nicht schlimmer einbrach. Doch dieser Aufstieg hat auch seinen Preis, den Preis einer zunehmenden Ungerechtigkeit in der Welt, wie die Non-ProfitOrganisation Freedom House feststellt. Wir im reichen Westen konnten unseren Wohlstand sozusagen dank global gestiegener Ungerechtigkeit ausbauen oder zumindest halten. Denn die Zahlen, welche Freedom House, eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Washington bereitstellt, um dies zu untermauern, sind kaum widerlegbar.
Mehrheit lebt und arbeitet in Unfreiheit
Ein Land ist in der Definition von Freedom House – gegründet von Eleanor Roosevelt und Wendell Willkie im Oktober 1941 – unter anderem dann ungerecht, wenn Wahlen nicht frei bzw. fair sind, die Opposition keinen Einfluss nehmen kann, die Justiz nicht unabhängig ist, bürgerliche Grundrechte nicht gewährleistet oder Frauen in der Gesellschaft nicht gleichberechtigt sind. Auf der Weltkarte von heute markiert Freedom House 87 freie Länder, 49 unfreie und 59 teilweise unfreie Länder. Russland oder China, die meisten asiatischen Tigerstaaten und zwei Drittel Afrikas gelten als unfrei, sowie die meisten muslimischen Länder. Das ist zwar nicht das Gros der Länder, aber krasser wird die Relation, wenn man statt nach der Anzahl Länder nach Bevölkerung bzw. nach Erwerbstätigen gewichtet. Dann leben heute 60.5% in unfreien Ländern. Insgesamt sind das fast viereinhalb Milliarden Menschen. 62.5% der Erwerbstätigen oder mehr als zwei Milliarden arbeiteten in unfreien Ländern, steuerten allerdings „nur“ 31% zur weltweiten Wirtschaftsleistung bei.
Völkerwanderung ist längst im Gang
Völkerwanderungen in der Geschichte unseres Planeten waren meist eine Flucht, sei es vor Hunnen oder anderen kriegerischen Stämmen, vor Hunger oder widrigen Umständen welcher Art auch immer in der Heimat. Mit der Eskalation des Syrienkonfliktes haben die Flüchtlingsströme ein vor allem für Europa sichtbar extremes Ausmass erreicht. Inzwischen sind es längst nicht mehr nur Syrer, die ihr Land verlassen wollen, die ganze Welt ist in Bewegung vornehmlich in Afrika und Asien und noch nie waren global so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Quasi durch die Hintertüre hat die Globalisierung eine eher unbeabsichtigte Personenfreizügigkeit ins Rollen gebracht. Die Flucht in die Freiheit, nichts wie raus aus den unfreien Marktwirtschaften lautet das Motto, ehe dort Chaos ausbricht oder die Diktatur das Zepter übernimmt. Zeit, die Politik zu globalisieren, die Wirtschaft hat schon genug davon.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen