Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ushinawareta Niljūen

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ushinawareta Niljūen
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Der mir genauso wie vielen von Ihnen nichtssagende Titel meiner heutigen Kolumne ist japanisch und bedeutet zwei verlorene Dekaden. Zehn Jahre nach dem Platzen der Japanblase Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts war noch von Ushinawareta Jūnen die Rede, was die verlorene Dekade heisst. Doch da auch der Start ins neue Jahrtausend für die japanische Wirtschaft missglückte, spricht man mittlerweile von zwei verlorenen Dekaden (1990 – 2010). Im Zusammenhang mit der demographischen Überalterung Japans ist hin und wieder sogar von der japanischen Krankheit die Rede.

Dabei geht es den Japanern überhaupt nicht schlecht: Die Prokopfeinkommen in Japan haben mit Ausnahme eines Tauchers im Soge der Finanzkrise auch in den zwei verlorenen Dekaden zugenommen. Nur eben nicht mehr im Tempo wie zu Zeiten des Japanbooms, als der damalige Präsident Ronald Reagan richtiggehend Angst vor Japan bekundete. Und alle wollten in Japan investieren. Das Land der aufgehenden Sonne erzielte damals sogar noch höhere Handelsbilanzüberschüsse als heute. Viele Marktbeobachter gingen davon aus, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis Japan den USA den Titel der grössten Volkswirtschaft streitig machen würde. Heute wissen wir, es kam anders.

Japan aber zwei verlorene Dekaden anzudichten, ist zu einfach, da es sich auf die „Deflation“, die eigentlich gar keine war, bezieht und das schwache Wachstums des Bruttosozialproduktes. Pro Kopf gerechnet muss sich Japan wie erwähnt überhaupt nicht verstecken. Im Gegenteil, es hielt da auch während den zwei verlorenen Dekaden locker mit den USA mit und hat unser Land sogar deutlich abgehängt. Dies weil in die reale Prokopfbetrachtung nicht nur der Zuwachs der nominalen Wirtschaftsleistung und die Inflation – im Zähler des Bruches – einfliessen, sondern auch das Wachstum der Bevölkerung im Nenner. Und weil die Bevölkerung kaum mehr wuchs und die Inflation tief bzw. manchmal sogar leicht rückläufig war, resultierte ein beachtlicher Wohlstandszuwachs pro Kopf. Relativeren muss man diesen Zuwachs dennoch, wurde er doch mit einem massiven Anstieg der Staatsverschuldung und jüngst zusätzlich noch mit einer Aufblähung der Zentralbankbilanz erkauft.

Nicht mit den Fingern auf andere zeigen
In den USA oder Europa kursiert trotzdem eine Art Furcht vor japanischen Zuständen. Das ist wegen der ansehnlichen Prokopfbilanz Japans jedoch nur zum Teil berechtigt. Japan ist sicherlich kein gutes Beispiel, wenn es um wirtschaftspolitische Konzepte zur Bekämpfung einer Wachstumsmalaise geht. Denn es gelang dem Land in den zwei Dekaden nicht, auch nicht mit allen Mitteln, das gesamtwirtschaftliche Wachstum wieder anzukurbeln.

Doch statt dass Amerikaner oder Europäer daraus die Lehre ziehen, wie man es nicht machen sollte, bewegen sie sich zunehmend im selben Fahrwasser wie Nippon. Sie täten gut daran, auf Japan nicht mit Fingern zu zeigen. Die Finanzkrise vor gut zehn Jahren hat nämlich auch den alten und neuen Kontinent aus der Bahn geworfen. Die Erwerbsbevölkerung in der Währungsunion schrumpft und die in den USA nimmt nur noch ganz wenig zu, so dass auch dies und jenseits des Atlantiks die Bäume nicht mehr zum Himmel wachsen. Die USA haben seit der Lehman-Pleite zwar vor allem am Arbeitsmarkt mehr Fortschritte erzielt als die die Europäer, die noch immer damit beschäftigt sind, die Schä- den der Lehman- und Eurokrise aufzuräumen, aber von nachhaltiger Heilung kann auch in den USA nicht ausgegangen werden. Viele Amerikaner haben sich schliesslich vom Arbeitsmarkt abgemeldet.

Der zwangssanierte Finanzsektor dürfte früher oder später wieder Wegbereiter eines Crashs an den Finanzmärkten sein. Der sogenannte Leverage, eng übersetzt die Hebelwirkung, ist wieder salonfähig, die von Obama ewig hinausgezögerte Bankenregulierung spätestens seit der Amtsübernahme Donald Trumps dagegen out. Schmalbrüstige Investoren und Spekulanten sind mit hohen Fremdkapitalquoten auf der Suche nach neuen Abenteuern, seien es Firmenübernahmen, Studenten- und Automobilkredite oder andere Basiswerte. Kaum war Trump gestern in Singapur vor die Medien getreten, liefen die Finanzticker schon heiss mit Meldungen, was in Nordkorea wohl für Renditen lockten. Wall Street wurde noch immer fündig, wenn es darum ging, mit dünnen Eigenmitteldecken und möglichst viel, heute erst noch billigem Fremdkapital Investitionen zu tätigen. So winkt eine stattliche Eigenkapitalverzinsung.

Brot und Spiele
Es klang genau so überzeugend wie schön. Nie wieder, schworen die Vertreter an G7 bis G20 Gipfeln, solle es zu einer Wiederholung einer solch schweren Finanzkrise kommen, den Banken müssten enge Korsette verpasst werden. Die Europäer gelobten dazu mehr haushälterische Disziplin und versprachen, den Euro auf ein sichereres Fundament zu stellen. Zehn Jahre später herrscht zwar ein wahrer Regulierungswahn im Finanzwesen, aber wirklich sicherer sind die Banken deshalb nicht geworden. Sie beschäftigen inzwischen lediglich Heerscharen von Juristen. Der Euro steht erneut auf der Kippe, weil Italien von Haushaltskonsolidierung nichts mehr wissen möchte. Und die demographische Falle ist nicht nur in hochentwickelten Volkswirtschaften omnipräsent, sondern hat auch China längst ereilt. Man muss daher gar nicht japanisch lernen. Wenn schon, dann ist das verlorene Jahrzehnt kein japanisches sondern ein globales Phänomen.

Auf Englisch heisst es dann vielleicht mal nicht so, sondern vielleicht „decade of wasted opportunities“. Aber auch das macht es weder anders, geschweige denn besser. Die wirtschaftspolitische Mottenkiste der Steuerung des Konjunkturzyklus hat schon länger ausgedient. Die neuen Konzepte Quantitative Easing oder Nullzinspolitik sind ebenfalls machtlos gegen das Phänomen der Sättigung. Es braucht den Mut, das Kolosseum zuzumachen und den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Denen dämmert allmählich schon, dass Brot und Spiele nicht gratis sind. Das musste auch Rom einsehen, als seine Grenzen dahinschmolzen. Und nicht vergessen: auf Roms Blüte folgte bald einmal
das dunkle Zeitalter. Da holen uns auch die Internetkonzerne nicht mehr raus.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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