Mit meiner Familie war ich jüngst unterwegs in Konstanz (D). Spontan hatten wir die Idee, unseren Bekannten, die uns am Abend eingeladen hatten, ein kleines, aber symbolträchtiges Geschenk zu machen. Wir entschieden uns für einen Lotterieschein. Also ab in den Kiosk, mit dem Vorhaben, dass unser jüngster 11-jähriger Spross den Schein ankreuzt und so zum potenziellen Glücksbringer mutiert. Doch das ging gehörig schief, denn Glücksspiel ist in Deutschland offenbar auf dem Radar der Behörden.
Amtsschimmel erobert Nebenkriegsschauplätze
Als die Kioskbetreiberin vernahm, dass wir im Sinn hatten, den „Kleinen“ den Lotterieschein ausfüllen zu lassen, raunzte sie uns förmlich an: „Das geht nicht, für Minderjährige ist Glückspiel verboten“! Auch unser Hinweis, dass wir, die Erziehungsberechtigten ja dabei seien, änderte nichts an ihrem kategorischen Nein. Denn würde ein Gewerbepolizist kommen und sehen, wie der Kleine den Schein ausfüllt, drohe ihr eine saftige Ordnungsbusse, so die Frau vom Kiosk. Wir lösten das pragmatisch und meine Frau ging vor die Türe, wo ihr unser Junior die Zahlen diktierte, die sie dann auf den Schein übertrug.
Doch das ist noch nicht das Ende dieser kleinen Episode. Zurück im Kiosk schritt ich zur Zahlung, ein paar Ziehungen sind gar nicht so günstig, musste ich feststellen und mangels genug Barem zückte ich die Kreditkarte. Und schon war da das nächste Problem. Kreditkarten werden in Deutschland zur Bezahlung von Glücksspielen aller Art nicht (mehr) akzeptiert. Wir liessen es dann sein und entschieden uns für ein konventionelles Mitbringsel. Seltsam ist die ganze Geschichte schon, denn als es in der Schweiz noch keine Casinos gab, war Konstanz so etwas wie das kleine Las Vegas für viele Schweizer. Was also soll das Ganze, zielt der Amtsschimmel da nicht über das Ziel hinaus? Gleichzeitig quillt Konstanz vor Bettlern über, obwohl per gesetzlichem Dekret Betteln und Hausieren verboten ist.
Kapitulation vor der Digitalisierung
Wer heute Regulierungen fordert, ist meist auf verlorenem Posten. Deregulierung ist schliesslich das grosse Schlagwort der jüngsten Wirtschaftsepoche und wie unlängst hier ausgeführt, konnte auch die Finanzkrise daran nichts ändern, bzw. Trump ist daran, die neuen Daumenschrauben für die Finanzinstitute bereits wieder zu lockern. Der Neoliberalismus gewann im Laufe der Globalisierung ohnehin die Oberhand gegenüber staatlichem Interventionismus. Wettbewerb, so das Credo, generiere in jedem Fall das bessere ökonomische Ergebnis. Doch der vielgerühmte Markt führte überhaupt nicht zur sogenannten Räumung, sprich stabilen Gleichgewichten. Es gab zwar weniger Rezessionen als früher, dafür aber mehr Finanz- oder Schuldenkrisen.
Gleichzeitig ist die Verteilung von Einkommen und Vermögen ungleicher geworden. Seit der Finanzkrise 2008 sind die Marktsignale wegen geldpolitischer Abenteuer zudem fast völlig ausgeschaltet oder senden auf Frequenzen, die so neu und ungewöhnlich sind, dass sie kaum jemand versteht. Die Geldpolitik mag in der Lage gewesen sein, Destruktion zu vermeiden oder sie vielleicht auch nur aufzuhalten, konstruktiv ist sie aber keinesfalls. Als Regulator taugt sie ohnehin höchstens für den Finanzsektor, aber weniger für die Realwirtschaft geschweige denn für den völlig aus dem Ruder laufenden Digitalisierungsmarkt. Der wird mal überreguliert, mal völlig vernachlässigt. Nebenbei arbeitet das Silicon Valley mit Hochdruck daran, unser digitales Suchtverhalten in seinem eigenen Interesse zu verschärfen. Und dies nicht etwa zufällig, sondern systematisch.
Mal so, mal so
Zug (ZG) im Juli 2018. In der Badi werde ich ermahnt, keine Fotos (von meinem Sohn) zu machen. Das sei verboten, ich berichtete hier schon darüber. An sich eine gute Idee, von wegen Daten- und Persönlichkeitsschutz, aber auch ein Nebenkriegsschauplatz und vor allem inkonsistent. Denn in Romanshorn (TG) konstatierte diese Woche der Kantonsschuldirektor „das Handy sei heute ein Teil der Persönlichkeit“. Frankreich, das an den Schulen ein Totalverbot erlassen habe, fahre eine Scheinlösung. In der Schweiz geht man mit dem Handy an Schulen tatsächlich lockerer um. An manchen Schulen gilt sogar das „bring your own device“, sprich die Schüler in der Mittelstufe müssen ihr Handy sogar mitnehmen. Das Handy als Lehrmittel sozusagen. Natürlich muss unsere Jugend sich im digitalen Alltag sicher bewegen können, verstehen was ein LAN ist oder wie die eigene WLAN-Verbindung funktioniert. Aber muss man, um zu verstehen wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, jeden Tag mit dem Auto zur Schule fahren? Geht das mit der Digitalisierung nicht auch anders und vor allem wenigstens etwas koordinierter? Mal verbieten, mal erlauben sendet falsche Signale.
Antiautoritär
Es ist zu befürchten, dass, was heute verschlafen wird, irgendwann radikal nachgebessert werden muss. Dabei kommt dann so was raus, wie in dem Kiosk in Konstanz, völliger Verhältnisblödsinn und rein formelle Akribie. Die Jugend pokert dafür im Internet um weitaus grosse Beträge. Was hat der Gewerbepolizist dagegen in der Hand? Dass die Regulatoren so zaghaft vorgehen, hat leider eine Wurzel darin, dass wir Konsumenten der Meinung sind, ein Handy gehöre sozusagen zu einem Gut des täglichen Bedarfs. Diesbezüglich hat Silicon Valley also schon ganze Arbeit geleistet. Eine weitere Wurzel der Zaghaftigkeit ist aber, dass es aufwendig ist, einmal erlassene Verbote auch umzusetzen. Wer einmal versucht hat, seinem Nachwuchs das Handy zu verbieten, weiss, wovon hier die Rede ist.
Ist es aber die richtige Strategie, nichts gegen einen Missstand zu tun, nur weil dies anstrengend ist? Das ist dann eher der Anfang des Übels. Wenn bestehende Regeln – und seien es Verbote – nicht mehr akzeptiert, sprich eingehalten werden, neigen wir heute dazu, die Regeln anstatt deren Nichteinhaltung zu hinterfragen. Die Konsequenz: Auf der Autobahn darf bald rechts überholt werden, weil das Rechtsfahrgebot nicht eingehalten wird. Velofahrer dürfen auch bei Rot über die Ampel, weil sie das sowieso schon machen, das gleiche gilt dann bald auch für Fussgänger, weil die das sowieso auch schon machen. Blinken müssen wir dann auch nicht mehr beim Spurwechsel oder das Auto erledigt das für uns automatisch. Wir dürfen auch geringe Mengen Drogen auf uns tragen und illegale Substanzen an der Street Parade auf ihre Reinheit untersuchen lassen. So wird, was einst verboten war, sukzessive aufgeweicht, allmählich toleriert und schliesslich erlaubt, nur weil sich niemand mehr an die Verbote hält.
Andererseits halten wir an völlig sinnlosen Regulierungen fest, von der Krümmung der Bananen über Tanzverbote an hohen Feiertagen oder dem Verbot, während der Nachtruhe die Toilettenspülung zu betätigen und was noch allem. Derweil übernimmt die Technologiebranche die Herrschaft über unsere Gesellschaft und wir applaudieren noch dazu. Das ist völlig paradox. Wetten, mein Kleiner könnte auf einem (er hat noch keins!) Handy in besagtem Konstanzer Kiosk einen Porno schauen oder Poker spielen, ohne dass das jemand beanstandet? Eben! Oder wieso nimmt Facebook die barbusige Marianne von Rubens, sprich Kunst vom Netz, lässt aber nazistische Äusserungen drauf? Es wird Zeit die Verhältnisse neu zu definieren, auch die rechtlichen und die Technologiebranche für die negativen externen Effekte ihrer gesamten Produktepipeline endlich zur Verantwortung zu ziehen. Sie selbst wird diese Verantwortung von sich aus nicht wahrnehmen. Das wäre aus Sicht der Unternehmen schliesslich ertragsmindernd. Als müssen andere das tun. Los geht’s, bevor es zu spät ist.
Martin Neff, Chefökonom