Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Nachdem die Nationalbank Mitte Januar den Wechselkurs wieder frei gegeben hatte, sackte die Stimmung in der Schweiz rapide ab. Schon tags darauf meldeten Konjunkturforscher, dass der Schweiz 2015 eine Rezession bevorstünde. Und die Verunsicherung war riesig. Als sich dann der Franken im Februar wieder etwas abschwächte und zeitweise über 1.08 Franken zum Euro notierte, herrschte eisernes, fast schon verdächtiges Schweigen.
Es war wenig davon die Rede, dass es doch nicht so schlimm kommen würde, als zunächst befürchtet. Dabei wäre das konsequent gewesen, denn die Konstellation war bereits wieder anders. Als sich dann aber der Wechselkurs wieder Richtung 1.05 und darunter bewegte, legten etliche Konjunkturskeptiker nochmals nach.
Im Sommerhalbjahr werde die Schweiz eine technische Rezession durchlaufen und das Jahreswachstum 2015 nur ganz knapp positiv ausfallen. Das klingt nach einer scharfen und genauen Prognose, doch die hat so viele Fragezeichen, dass es schon etwas an Fahrlässigkeit grenzt, gerade das schlimmste aller Szenarien auszupacken – Rezession. Das Wort schafft Verunsicherung. Sein vorsichtiger Gebrauch ist daher Gebot, vor allem in Zeiten erhöhter Unsicherheit.
Die Volkswirtschaftslehre ist bekanntlich keine exakte Wissenschaft. Vieles hängt vom Standpunkt des Betrachters ab und je nachdem können Volkswirte bei der Erörterung eines wirtschaftlichen Phänomens zu völlig anderslautenden Schlüssen gelangen. Noch sehr viel ungenauer ist das Prognosegeschäft. Auch da kommt es stets auf die Annahmen an. Und trotzdem suggerieren wir Konjunkturforscher mit unseren akribisch berechneten Daten eine Genauigkeit auf der Nachkommastelle, der wir eigentlich nur selten gerecht werden können. Warum wir das tun? Ganz einfach, die Welt lechzt förmlich danach, gerade in Zeiten wie diesen. Wir befriedigen folglich eine offensichtlich grosse Nachfrage.
Boom im Prognosegeschäft
In den letzten drei Monaten hat diese Nachfrage deutlich angezogen, gerade in der Schweiz, wo nach dem Wechselkursschock eine weit verbreitete Ratlosigkeit herrscht. Kein Anlass verstreicht, an dem ich nicht auf unseren Wechselkurs angesprochen werde. Es ist stets ein Jahresendwert oder eine Jahresprognose gefragt und vor allem die Richtung der kommenden Monate. Kostet der Euro dann weniger als einen Franken oder sogar wieder eins zwanzig oder mehr? Gibt es jetzt eine Rezession? Zur Rezession wäre zunächst zu bemerken, dass die in der Ökonomie schon (technisch) vorliegt, wenn die Wirtschaft zwei aufeinander folgende Quartale schrumpft. Ein zweimaliger Rückgang der Wirtschaftsleistung um jeweils 0.1% gegenüber dem Vorquartal wäre folglich schon eine Rezession.
Ich überlasse es dem Leser, ob er diesen Rückgang letztendlich in seiner Haushaltskasse spüren wird oder nicht. Aber als persönliche Rezession wird ein solch schwaches Minus kaum empfunden. Dennoch herrscht im Land das beklemmende Gefühl, dass uns eine schwere Rezession droht. Auch wegen des schwerelosen Umgangs mit dem Begriff.
Zwei von drei
Natürlich wird der Wechselkurs den entscheidenden Einfluss auf die Konjunkturentwicklung der kommenden Monate haben, aber der ist gleichzeitig auch die grösste Unbekannte. Kurz- bis mittelfristige Wechselkursprognosen waren und sind eher Wetten als verlässliche Barometer. Höchstens langfristig lassen sich einigermassen vertretbare, modelbasierte Prognosen erstellen. Wer also von Rezession spricht, wettet implizit darauf, dass der Franken sich kaum wieder abschwächt und so dem Export arg zusetzt. Es kann aber durchaus anders kommen. Die auf den ersten Blick erstaunliche Erholung der Aktiennotierungen in der Schweiz nach dem Taucher im Januar ist das exakte Gegenteil der Rezessionswette. Die Quartalsergebnisse der Unternehmungen konnten zwar nicht rundum überzeugen, fielen insgesamt aber besser aus als zunächst befürchtet. Natürlich braucht es Zeit, bis sich die neue Wechselkurskonstellation über die verschiedenen Kanäle bis in den letzten Winkel unserer Wirtschaft durchgefressen hat, aber die Börse versprüht deutlich mehr Zuversicht als die Konjunkturauguren. Das hat einen einfachen Grund, den sie setzt auf drei Pferde: Wechselkurs, Konjunkturprogramm und Europa.
Und da die Börsianer sehr genau wissen, dass der Wechselkurs das unzuverlässigste Ross im Stall ist, setzen sie mehr darauf, dass der niedrige Ölpreis und die tiefe Teuerung die Konjunktur hierzulande stützen und dass Europa aus dem Konjunkturtal herausfindet. Dass der Euro gegenüber dem Dollar wieder zugelegt hat, ist nicht nur ein Resultat der zögerlichen Geldpolitik in den USA, sondern auch Ausdruck eines schmaler gewordenen Konjunkturgefälles zwischen Amerika und Europa. Von drei ermunternden Konjunkturstützen ist eine derzeit inaktiv. Zwei von drei ist nicht wenig, sondern weit mehr als die Hälfte. Und so steht es derzeit auch um die konjunkturellen Chancen der Schweiz: zwar verhalten, aber intakt.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen