Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Vom Coach zur Couch

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Vom Coach zur Couch
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Meine Eltern starben früh. Ansonsten hätten sie ganz sicher die goldene Hochzeit gefeiert. Dafür hatte ich unzählige Tanten, und Onkels, die dieses Ereignis erleben konnten und ein Paar in unserer Verwandtschaft schaffte sogar die Diamantene Hochzeit. Bis dass der Tod Euch scheidet, war für sie alle offenbar keine Floskel, so wie für viele Eltern der geburtenstarken Jahrgänge. Der Bund des Lebens erodiert zunehmend.

In Deutschland lag die Scheidungsquote 1966 bei 10.7 %, 2019 kam rein rechnerisch auf drei Eheschliessungen eine Scheidung. Die Ehedauer lag zuletzt bei knapp 15 Jahren, nach 5 bis 9 Jahren Ehe gab es sehr viele Scheidungen, mit Abstand am meisten aber nach 26 Jahren Ehe, also nach der silbernen Hochzeit. In der Schweiz sieht die Statistik ähnlich aus. Die grösste Häufigkeit von Scheidungen findet sich bei einer Ehedauer von über 15 Jahren. Das hat mich etwas überrascht. 1970 lag die Scheidungsziffer hierzulande bei 15.4 %, 2019 bei 41.1 %. Sie lag zwar auch schon höher, aber das mit dem Bund fürs Leben lässt sich anhand solcher Zahlen kaum bestätigen. Darüber, woran all dies liegen könnte, möchte ich hier nicht spekulieren. Es gibt genug durchaus plausible Erklärungsansätze dafür. Ich möchte auf etwas anderes hinaus. Selbst Paartherapien konnten den Trend nicht brechen.

Wenn früher der Haussegen mal schief hing, konnten sich die Paare offenbar irgendwie arrangieren oder haben sich wieder zusammengerauft, wahrscheinlich nicht selten auch aus materiellen Gründen. Sie hatten überhaupt noch keine Eheberatung oder beanspruchten sie nur in den seltensten Fällen. Allenfalls fragte man vielleicht die Dienste eines Steuerberaters an, wobei dies meist nur die Besserverdienenden taten. Normalerweise regelte man aber seine Angelegenheiten selbst, war dies gewohnt und wurde nicht etwa mangels Angebot dazu gezwungen, wie heute gern einmal kolportiert wird. Aber verlassen wir das emotional heikle wie auch unangenehme Thema gefährdeter oder gescheiterter Ehen. Mir geht es um neue Berufe, deren Exponenten uns unser Leben leichter machen wollen und sich selbst damit lukrative Verdienstmöglichkeiten schaffen. Beispiele gefällig?

Coaches überall
Da hätten wir etwa Mode-, Life-, Style-, Lifestyle-, Ernährungs- oder jede Art von Krisenberatungen, Fitness- oder «Abnehmcoachs». Der Berufsberater heisst heute Karrierecoach und wenn das Ehecoaching nicht klappt oder uns sonst was im Leben zusetzt, das wir auf Anraten eines Coaches besser mit fremder Hilfe überwinden sollten, gibt es einen Coach der uns die richtige Therapie empfiehlt oder die richtige Couch, auf der wir uns dann vollständig outen. Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft hat Berufsbilder entstehen lassen, über welche meinen Eltern wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt hätten.

Das Internet hat diesen Wandel noch beschleunigt und weitere Berufs- bzw. Betätigungsfelder aufgetan. Onlinetherapeuten bieten – Aufzählung sehr selektiv und bei weitem nicht abschliessend – z.B. Muskel-Meridian-Therapien, Magnet- oder Gesprächspsychotherapien, Mal-, Kunst- oder Gestaltungtherapien und was auch immer noch an. Es gibt Spiritualitätscoachings, schamanisch-spirituelle Coachings bis hin zur Online-Hypnose.

Und man kann sich auch zum spirituellen Coach ausbilden lassen, mit Zertifikat versteht sich. Ich will das überhaupt nicht ins Lächerliche ziehen, aber ich habe Mühe zu begreifen, dass wir fast schon dazu erzogen werden, erst gar nicht zu versuchen, uns selbst zu helfen und uns mehr zuzutrauen. Früher trugen Witwen bis zu einem Jahr schwarz nach dem Ableben ihres Mannes und lebten danach vielleicht ein weiteres in Halbtrauer. Wer heute mehr als 14 Tage trauert, gilt unter Umständen schon als krank und benötigt eine Trauertherapie durch gleichnamige Coaches. Als Ökonom tue ich mich vor allem damit schwer, dass all diese neuen Berufsfelder als Wertschöpfung verbucht werden, so wie alles, für das eine Nachfrage besteht, die Geldflüsse auslöst. Keynes würde mir natürlich vehement widersprechen.

Von Photoshop und Influencern
Die Spitze der Life-Coaches sind sogenannte Influencer. Wikipedia umschreibt diese als … «Personen, die – aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres hohen Ansehens – in sozialen Netzwerken als Träger für Werbung und Vermarktung in Frage kommen.» Die gab es schon früher, nur hatten sie nicht annähernd die Reichweite wie in Zeiten des Internets. Ob Levis, Mustang oder Wrangler (Jeans) getragen wurden, hing auch mal davon ab, welche Marke die besten Kumpels oder die heimlich Verehrten trugen. Die waren aber immerhin authentisch, echt und lebendig und nicht künstlich, virtuell und vor allem waren sie nicht «gephotoshoppt». Heute raten uns die mit Photoshop Verschönten täglich zu einem anderen Style, empfehlen uns Produkte, fragen uns: «Hast Du Dir schon einmal überlegt, wie oft am Tag Du eigentlich dies und das tust oder auch nicht?»

Obwohl uns der gesunde Menschenverstand sagen müsste, dass das so schlimm nicht ist, so lange wir unser Leben im Griff haben und das unsere eigene willentliche Entscheidung ist, suggeriert uns diese Frage, dass unser Leben nicht volloptimiert ist und das erzeugt erst das Unwohlsein und nicht etwa das Tun oder Lassen. So wie beim armen Ehemann in Loriots Klassiker, der eigentlich nur dasitzen möchte, dem seine Frau aber sagt, er tue überhaupt nicht, was ihm Spass mache. Das sagt uns heute der Coach oder Influencer. Also schöpfen wir neue Werte. Wir pimpen unser Outfit, denn wie bislang können wir nicht länger rumlaufen. Wir takten den Tag durch wie unser Vorbild im Netz, «photoshoppen» unsere Portraitbilder oder sonstige Aufnahmen und wenn dies alles noch nicht zur Selbstoptimierung reicht, dann gehen wir zum Chirurgen – da sind wir Schweizer fast Weltmeister – oder auf die Couch. Therapien und Coachings sind längst ein lukratives Business geworden.

Wir können nur hoffen, dass die unterbezahlten und völlig überlasteten Pfleger sich nicht zu Heilcoaches ausbilden lassen. Ihre Pro-Kopf-Wertschöpfung würde sicherlich massiv zulegen. Sie würden dem Gesundheitssystem empfindlich fehlen, dafür aber vielleicht endlich anständig verdienen. (Raiffeisen/mc)

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