St. Gallen – In meinem Studium las ich ein Buch, das mich einerseits beeindruckte – notabene nicht prägte -, aber auch der letzten Illusionen meiner streng katholischen Erziehung, gestreng dem Motto «du sollst nicht lügen», beraubte. Das Buch trug den Titel «Die Welt will belogen werden» oder so ähnlich und ich habe mich an dieser Stelle schon einmal damit beschäftigt, aber in anderem Zusammenhang. Jedenfalls schmiss, was da geschrieben stand, das mir jahrelang eingetrichterte «ehrlich währt am längsten» förmlich an die Wand.
Nicht dass ich damals ohne Lügen ausgekommen wäre, aber ich habe mir zumindest stets vorgenommen, es nicht mehr zu tun und hatte immerhin jeweils ein schlechtes Gewissen. Mittlerweile gibt es tatsächlich Wissenschaftler, die das Phänomen der Lüge durchleuchten. Die Wissenschaft der falschen Behauptung ist eine gar nicht mehr so neue Disziplin der Psychologie, wie ich jüngst lesen durfte.
Lügen ist menschlich…
Nicht nur Irren, auch Lügen ist gemäss psychologischer Forschung menschlich. Beides ist allerdings nicht sehr beruhigend. Irrtümer können tödliche Folgen haben und Lügen grossen Schaden anrichten. Und doch sind sie steter Wegbegleiter im menschlichen Alltag. Der Mensch ist wohl auch die einige Spezies, die lügt. Auch im Privatleben kommen die wenigsten Menschen nicht ohne Lügen aus und selbst intimste freundschaftliche Beziehungen erweisen sich immer wieder als Lügengebilde. Ehrliche Beziehungen, heisst es gemeinhin, sind in der Regel dauerhaft, was in der Theorie zutreffen mag. Nur gibt es dem Ideal der grossen Liebe zum Trotz praktisch viel weniger ehrliche (Vertrauens)- Beziehungen, als all die Paare glauben möchten, die sich irgendwann das Jawort geben. Das war schon früher so, nur ist man inzwischen wenigstens so weit, sich das einzugestehen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Mit der Folge, dass heute jede zweite Ehe zu Bruch geht.
…verständlich…
So verwerflich die Lüge sein mag, die Motive sind es weniger. Der Psychologe Tim Levine bringt es ganz einfach auf den Punkt und sagt, dass wir «lügen, wenn die Wahrheit nicht funktioniert». Fast die Hälfte aller Lügen dienen dazu, sich einen Vorteil zu beschaffen, entweder einen persönlichen oder ökonomisch-materiellen. Das zweitwichtigste Motiv zu lügen, dient dem Selbstschutz. Man möchte eigene Fehler oder Vergehen auf keinen Fall preisgeben oder einfach nur anderen Menschen aus dem Weg gehen. Es gibt auch vermeintlich positive Motive, nicht die Wahrheit zu sagen, sei es um anderen Menschen zu helfen oder um sie zum Lachen zu bringen. Die boshaften Motive sind eher selten, z. B. lügen, um andere Menschen zu verletzen. Im Vordergrund steht beim Flunkern aber doch immer das Ego und selten die Gemeinschaft.
…und auch im Wirtschaftsalltag Usus…
Lug und Trug sind engsten miteinander verwandt. Was im privaten Leben die Lüge, ist in der Wirtschaft der Betrug und dies völlig unabhängig vom unterliegenden System. Heute herrscht in den sogenannten hochentwickelten Volkswirtschaften ein breiter Konsens, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem ehrlicher ist als Sozialismus oder Kommunismus. Doch messbar ist dies nicht und rührt wohl auch daher, dass im bisher gelebten Sozialismus die Korruption ein ständiger Begleiter war. Ein Blick nach Lateinamerika oder Asien lehrt uns allerdings, dass Korruption eine vom politischen System unabhängige Erscheinung ist und überall auftaucht, wo sich Menschen einen persönlichen oder wirtschaftlichen Vorteil erhoffen, wenn sie es mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen. Und zieht man die Geschichte bei, dann lehrt sie, dass Machtkonzentration der Korruption Vorschub leistet, weshalb die Demokratie unumstritten die Herrschaftsform ist, welche weniger Korruption hervorbringt als totalitäre Staaten. Doch die Lüge ist überall, unabhängig vom System, und stets nahe am Betrug. Von Charles Ponzi über Jürgen Schneider bis hin zu Bernie Madoff, alle bereicherten sich mit der Kunst der falschen Wahrheit, so wie Werner K. Rey dies auch hierzulande tat.
…sowie in der Politik
Politiker geniessen besonderen Ruf, grosse Lügner zu sein. Schon die alten Herrscher logen, wenn es opportun war – für wen auch immer. Auch in der Neuzeit dasselbe Muster: Richard Nixon, der beteuerte, nicht in Watergate verwickelt zu sein, Bill Clinton der „keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau hatte“ oder Karl-Theodor zu Guttenberg, der die Plagiatsvorwürfe zunächst als abstrus abtat, sind prominentere Beispiele dafür. Und der aktuelle Präsident der USA scheint hin und wieder auch mit der Wahrheit auf dem Kriegsfuss zu stehen.
Lügen ist lernbar
Wir kommen nicht schon verlogen auf die Welt, aber wir lernen im Laufe des Lebens zu lügen. Kleine Kinder lügen weniger als grössere, Teenager am meisten, mit zunehmenden Alter wird dann etwas weniger gelogen, aber auch von den jungen Erwachsenen (18 bis 44 jährig) kommt nicht einmal die Hälfte auch nur einen Tag ohne Lüge aus. Selbst die Älteren unter uns lügen noch wie gedruckt, 34% der über 60-jährigen mindestens einmal am Tag und gut 10% mehr als fünfmal täglich. Immerhin werden wir mit dem Alter wieder etwas ehrlicher. Wer einmal lügt, dem traut man nicht, war ein Leitsatz (m)einer konservativen Erziehung und er hatte durchaus abschreckenden Charakter, so wie «wehret den Anfängen». Bis ich merkte, dass manche Lügen ziemlich lange Beine haben oder andere sich einen Vorteil verschaffen, wenn sie nicht die Wahrheit sagen. Fragt eine Lehrperson die Erstklässler, wer was ausgeheckt hat, bekommt sie in den seltensten Fällen eine Antwort. Auch ich habe mich damals nur einmal gemeldet. Lügen lernen ist gemäss Kang Lee, Psychologe an der University of Toronto eine vollkommen natürliche Entwicklungsstufe von uns Menschen. Klingt nicht toll, ist aber wahr.
Kredit verspielt, Aufsicht im Nacken
Das Kreditgewerbe, das bekanntlich vom Vertrauen lebt, ist genauso wenig frei von Lügen wie die Wissenschaft, die sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Das hat viele überrascht, da sich beide selbst die höchsten ethischen Standards attestieren. Doch arbeiten auch da Menschen wie Du und ich, sprich im statistischen Schnitt lügt die Hälfte mindestens einmal am Tag. Man kann es natürlich auch positiv formulieren, die andere Hälfte lügt schliesslich nicht. Das genügt aber nicht, das Image der Branche wieder aufzupolieren. Heute weht der Branche flächendeckend grosses Misstrauen entgegen. Der ehemals angesehene und bewunderte Banker erwies sich letztlich auch nur als das, was er ist, ein Mensch mit all seinen Tugenden und Fehlern. Und drum geht es der Branche nun wie vielen. Vertrauen ist gut, Kontrolle aber besser. Und die nimmt nun die Aufsicht wahr, und zwar flächendeckend zu 100%, und somit leider auch die Kontrolle der Ehrlichen. Das nennt sich Sippenhaft, oder?
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen