Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Warnung vor der Entwarnung
Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Wer nicht warnt, vor was auch immer, kommt in der Wirtschaft nicht in die Schlagzeilen. Angstmacherei ist ein grosses Geschäft geworden, umso mehr in einer an sich heilen Welt „im Westen“, in der es eigentlich kaum mehr etwas zu fürchten gibt. Krebserregende Substanzen werden zuhauf entdeckt, auf der Strasse lauert der Tod, Studien am Laufmeter wittern neue Gefahren bei jeglichen Aktivitäten, Nahrungsmittel sind mal gefährlich mal gesund und Urlaub in Ägypten oder der Türkei gerade wieder mal lebensgefährlich. In der Finanzbranche sind Warnungen gang und gäbe nicht nur seitens der Aufsicht. Die quartalsweise wiederkehrenden Berichtssaisons strotzen zum Beispiel vor sogenannten Gewinn- oder Verlustwarnungen.
Entwarnungen sind ebenfalls im Trend, zumal Warnungen irgendwann ins Leere laufen, wenn sie sich nicht bewahrheiten. Zwar warten wir noch immer auf die Entwarnung im Immobilienmarkt, doch was die Frankenstärke anbelangt, gab manches Medium jüngst eine erste Entwarnung – dank einem Plus der Exporte im ersten Quartal des laufenden Jahres. Natürlich ist die Zunahme der Exporte um 2.5% erfreulich. Allerdings sagt diese Zahl allein wenig über den Zustand der Schweizer Exportindustrie aus und schon gar nichts darüber, ob der Frankenschock tatsächlich verdaut ist. Auch der hervorragende Handelsbilanzüberschuss ist auf den zweiten Blick ein sehr einseitiger. Denn ohne Pharmaindustrie wäre die Schweiz keine rekordverdächtige Exportnation.
Gross und grösser
Früher hatten vornehmlich die Maschinenhersteller hierzulande Weltruf und noch viel früher die Textiler. Nicht, dass heute in diesen Branchen keine prominenten und kompetitiven Unternehmen mehr zu finden wären, aber eine branchenweit hohe Wettbewerbsfähigkeit lässt sich den ehemaligen Vorzeigebranchen nicht mehr attestieren. Heute ist die Pharmaindustrie die Schweizer Vorzeigebranche, die mittlerweile eine schon fast unheimlich anmutende Dominanz auf der Exportseite aufweist. Vor 25 Jahren bestritt die Pharmabranche 10% der Schweizer Exporte. Heute sind es gut 35%. Im Schnitt legte diese Branche also jährlich einen Prozentpunkt Exportgewicht zu. Ohne Pharmaindustrie, die im ersten Quartal 2016 einen Handelsbilanzüberschuss von über 8% des nationalen Bruttoinlandproduktes erzielte, schriebe die Schweiz im Aussenhandel seit Jahrzehnten Defizite.
Auch die Uhrenindustrie (inklusive Präzisionsinstrumente) erzielt einen beachtlichen Handelsbilanzüberschuss – im ersten Quartal knapp 4% des Bruttoinlandproduktes – und auch die arg gebeutelte Maschinen- und Elektrobranche erwirtschaftet einen Handelsbilanzüberschuss. Letzterer bläst aber schon länger ein gehöriger Wind entgegen. 1990 noch dominante Exportbranche der Schweiz stemmt sie heute noch 15% des nationalen Warenexports, ein Gewichtsverlust von 17 Prozentpunkten. Der Aufstieg der Pharma- und Uhrenindustrie erfolgte demnach hauptsächlich zu Lasten der Maschinenindustrie und der klassischen massenfertigenden Industrien, wie Papier, Stahl oder Metall.
Weniger Lichtblicke
Ein Plus von 2.5% der Exporte im ersten Quartal tönt gut und macht den Schock des ersten Vorjahrsquartals, das ganz im Zeichen des 15. Januars stand, fast schon vergessen. Aber selbst die Uhrenindustrie lahmt inzwischen, vor allem wenn man die Exporte nach China betrachtet, die heute keine 20% der Uhrenausfuhren mehr ausmachen. Am Höhepunkt Ende 2011 und Anfang 2012 lag der Anteil noch bei über 30%. Und da der Rest der Welt diesen Ausfall kaum wettmachen kann, waren die Uhrenexporte auch im ersten Quartal 2016 mit fast 9% erneut stark rückläufig. Fortlaufende Strukturbereinigungen in den klassischen Industrien, konjunktur- und wohl auch währungsbedingte Schwächen bei Uhren, etlichen Maschinenbauern und im Fahrzeugbau, es gibt kaum Lichtblicke im Schweizer Warenexport, ausser einem, dafür aber umso helleren Lichtschein der Pharmaindustrie.
Nichts gegen den Erfolg dieser Branche, aber sie ist auch in einem «natürlichen» Wachstumsmarkt tätig, der hoch reguliert, komplex und mit hohen Eintrittsbarrieren versehen ist. Die Nachfrage ist daher kaum anfällig gegenüber Marktverwerfungen. Dafür ist die Abhängigkeit von der politischen Seite aber umso grösser. Bisher hat die Branche jeden politischen Versuch, die Explosion der Kosten im globalen Gesundheitswesen einzudämmen, schadlos überstanden. Das könnte sich aber bald schon ändern, denn die öffentlichen Finanzen sind in den Industrienationen so angeschlagen, dass auch das Gesundheitswesen nicht mehr tabu für den Rotstift sein dürfte.
Im SMI machen Roche und Novartis allein 37% der Börsenkapitalisierung aus. Diese als defensiv geltenden Werte können manches Mal den Markt ganz schön bewegen, meist positiv bisher, doch das ist kein Garant für die Zukunft. Man denke nur an die ehemals dominanten Grossbanken, die 2007 am Höhepunkt auch 22% des SMI ausmachten. Heute sind es noch 9%. Zu viel des Guten tat der Schweiz bekanntlich nie gut, ein bisschen Diversifikation in der Industrie täte dringend Not, so wie etwas mehr Differenzierung in der Diskussion über den Industriestandort Schweiz.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen