Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wie besiegt man einen Fluch?
Seit Jahren spielt die Schweiz eishockeytechnisch in der Weltspitze. Waren früher Siege gegen eine der grossen Eishockeynationen Seltenheit, hat man sich daran gewöhnt, dass die Schweiz diesen immer mal wieder ein Bein zu stellen vermag. Nur in zählbare Erfolge konnte das Schweizer Team seine Fortschritte nicht ummünzen. Eine Silbermedaille 2018 war bis zum diesjährigen WM-Turnier die einzige Ausbeute. Und dies, obwohl die Equipe mutig auftrat und in der Gruppenphase regelmässig zu überzeugen wusste. Wenns dann jeweils Ernst wurde in den Viertelfinals, konnte die Schweizer Mannschaft aber nicht mehr an die Performance zuvor anknüpfen.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Die ganze Geschichte drohte zu einer regelrechten Hypothek zu werden. Seit 2019 scheiterte die Schweiz viermal hintereinander im Viertelfinal. Gemäss dem Bonmot: Eins ist nichts, zwei ist Zufall, drei ein Muster und vier ein Fluch, begann die Pechserie mentalen Schaden anzurichten. Anders kann man sich das seltsam gehemmte Auftreten im Viertelfinal vor einem Jahr gegen Deutschland nicht erklären. Nach einer fast perfekten Gruppenphase quotierten die Buchmacher die Schweiz mit 1:5 zum klaren Favoriten. Doch das Spiel stand unter einem schlechten Stern. Schon der zweite Schuss kullerte dem Schweizer Goalie Robert Mayer über den rechten Beinschoner ins Tor. Auch eine fünfminütige Überzahlsituation im Mitteldrittel konnte die Schweiz nicht nutzen und musste im Spiel gar einen Short Hander hinnehmen.
Konnte man das eine oder andere Ausscheiden in einem Viertelfinal noch mit Pech abtun – beispielsweise der Ausgleich der Kanadier 0,4 Sekunden vor Ende der Partie im Jahr 2019 –, so war das sonderbar passive Auftreten in den letzten Viertelfinals Zeichen einer wachsenden mentalen Blockade – und von Ratlosigkeit. Gegen den Angstgegner Deutschland hatte man bereits 2021 verloren, im Penaltyschiessen, nachdem man 44 Sekunden vor Schluss den Ausgleich hatte hinnehmen müssen.
Als ob das Schicksal der Schweiz die Chance hätte geben wollen, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben, hiess der diesjährige Viertelfinalgegner einmal mehr Deutschland. Mental dasselbe Drama nochmals zu durchleben und daran nicht erneut zu zerbrechen, kann einen davon heilen. Entsprechend stand die Schweiz vor dem ultimativen Reifetest. Aus den Niederlagen hatte man wohl die richtigen Schlüsse gezogen, intensiv im mentalen Bereich gearbeitet und dazu eigens einen Mentalcoach beschäftigt. Doch die mentale Ebene ist und bleibt eine Blackbox und ein scheues Reh. Mit Genoni im Tor war der Start flott und die 2:0-Führung verdient. Im Mitteldrittel verlor die Schweiz jedoch den Faden und drohte in alte Muster zurückzufallen. Wieder musste man den Deutschen den Anschlusstreffer zugestehen. Phasenweise war die Schweiz von der Rolle. Die Geister der Vergangenheit klopften an die Tür. Das Drama hätte sich wiederholen können. Auch 2023 führte man mit 2:0. Fokus auf das Hier und Jetzt lautete die mentale Antwort der Schweizer auf den Fluch der Vergangenheit.
Nur der Moment zählt, wurde im Vorfeld gebetsmühlenhaft wiederholt. Was vorher war und nachher sein kann, wird konsequent ausgeblendet. So warfen sich die Schweizer in alle Schüsse und peitschten sich gegenseitig auf, um nur nicht ins Grübeln zu kommen. Das Tor von Bertschy eine Minute vor Schluss ins leere Tor der Deutschen brachte die Erlösung. Die Last der ganzen Welt schien in diesem Moment von den Schultern der Verbandsverantwortlichen zu fallen. Nicht nur für die Spieler, auch für sie war die Belastung enorm gewesen.
Üblicherweise wird im Sport im Falle von Misserfolg der Trainer entlassen. Das Auswechseln des Trainers ist eine Zäsur und birgt die Chance, ein neues Kapitel aufzuschlagen. In der deutschen Bundesliga hat sich zum Beispiel in der Spielzeit 2023/2024 die Punktausbeute pro Spiel nach einem Trainerwechsel von 0,38 auf 1,45 erhöht, bei neun Trainerentlassungen. Im kollektiven Frust über das wiederholte Viertelfinalversagen von 2019 bis 2023 wurde der verdiente Trainer Patrick Fischer, der die Schweiz an die Weltspitze herangeführt hatte, stark infrage gestellt.
Wäre es nach den Medien gegangen, stünde heute ein anderer Trainer an der Bande der Schweizer. Lars Weibel, der Sportdirektor des Eishockeyverbandes, hielt aber an ihm fest, auch als in diesem Frühjahr die Eishockey-Nati 13 Niederlagen in Serie aneinanderreihte. Nach der 11. Niederlage verlängerte er sogar den Vertrag des Trainers bis 2026. Ein mutiger Entscheid. Aber nicht nur, denn das Team hatte sich trotz wiederholter Rückschläge weiterentwickelt und irgendwann müssten doch auch die Eishockeygötter ein Einsehen haben. Dafür gibt es aber keine Garantie, schon gar nicht im Sport. Nicht auszudenken was geschehen wäre, hätte der Deutsche Kahun beim Stand von 2:1 nicht nur den Pfosten getroffen.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Sportgeschichte ziehen? Sich von Rückschlägen nicht beirren zu lassen, Niederlagen sauber zu analysieren, die richtigen Schlüsse zu ziehen und weiterzumachen. Auch wenn es verhext zu sein scheint und man sich wiederholt eine blutige Nase holt. Beharrlichkeit zahlt sich irgendwann aus. Zentral ist dabei die Analyse, denn immer wieder das Gleiche zu versuchen und einen anderen Ausgang zu erwarten, ist die Definition von Wahnsinn gemäss Albert Einstein. Es gilt also, basierend auf der Analyse, einige Rädchen zu verändern, Anpassungen vorzunehmen und dann auf das Schicksal zu vertrauen. Nicht nur im Sport, auch in anderen Bereichen gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit. Und ja, zum Erfolg braucht es immer auch ein Quäntchen Glück. So konnte die Eishockey-Nati im Halbfinal gegen die Kanadier zwar einmal mehr den Vorsprung nicht über die Zeit retten, dafür das Penaltyschiessen für sich entscheiden wie schon in der Gruppenphase gegen Tschechien. Im Final war das Glück dann aber aufgebraucht. Und was meinte ein sichtlich enttäuschter Patrick Fischer: «Wir gehen weiter!» (Raiffeisen/mc)