St. Gallen – Kürzlich unterhielt ich mich am Rande einer Veranstaltung mit einem deutschen Ehepaar aus Berlin, das sich seit einiger Zeit in der Schweiz niedergelassen hat. Sie lobten unser Land in den höchsten Tönen. Hier funktioniere alles so reibungslos. Die Züge verkehrten pünktlich, die Städte seien viel sauberer und Bettler, die in Deutschland in jeder Stadt anzutreffen seien, sehe man in der Schweiz faktisch keine.
Zudem sorgten sie sich um ihre Immobilie in Berlin, nachdem die linksgrüne Regierung den sogenannten Mietendeckel ins Spiel brachte. Der sieht vor, dass die Mietpreisgestaltung streng reglementiert wird. Wohnungen werden in 17 Kategorien unterteilt, je nach Alter der Gebäude. Lage und Ausstattung der Wohnungen sind für die Zuteilung irrelevant, lediglich ob eine Zentralheizung existiert oder ein eigenes Bad wird bei der Kategorisierung berücksichtigt. Die maximal mögliche Kaltmiete soll gemäss Berliner Senatsvorschlag 7,97 Euro pro Quadratmeter und Monat betragen. Der Tiefstwert der 17 Kategorien liegt bei 3,42 Euro. Zum Vergleich: In Karlsfeld, der teuersten deutschen Stadt liegt die Nettokaltmiete pro Quadratmeter bei 10,62 Euro, in München bei 10,45 und in Stuttgart, der drittteuersten Stadt gemäss deutschem Mietspiegelindex bei 9,97 Euro.
In der Hochpreisinsel Schweiz wäre natürlich selbst die Berliner Maximalmiete ein Schnäppchen. Prozentual – also gemessen am Haushaltseinkommen – geben deutsche Haushalte im Schnitt allerdings ähnlich viel für das Wohnen aus wie ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt. Denn die Löhne sind in Deutschland markant tiefer als hierzulande. Eine 100 Quadratmeter grosse Wohnung für unter 1‘000 Franken monatlich zu finden, ist in der Schweiz aber ein Ding der Unmöglichkeit. In Berli sollen diese 1‘000 Franken die Obergrenze bilden und wer weiss, vielleicht auch bald in anderen Grossstädten Deutschlands. Da beklagt sich das deutsche Ehepaar wohl mit Recht über die eingeschränkte Eigentumsfreiheit. Nicht mehr nach der Marktlogik, sondern nach Vorschrift soll sich der Mietwohnungsmarkt in Berlin inskünftig richten. Und die Immobilienbesitzer haben sich vielleicht bald danach zu richten. Dabei folgen die Mieten lediglich den Gesetzen des Marktes. Sie steigen dort am meisten, wo die Nachfrage nach Wohnraum am Grössten ist. Und Berlin ist nun mal überdurchschnittlich gefragt. Die Stadt legt einwohnermässig vor allem wegen eines Geburtenüberschusses und Zuwanderung aus dem Ausland zu; sie zieht also nicht die zahlungskräftigste Klientel an, was am Wohnungsmarkt zu entsprechenden Engpässen führt.
Städte sind gefragt. Die Urbanisierung schreitet ungebremst voran. Im Jahr 2030 soll es weltweit gemäss UN World Urbanization Prospects 662 Millionenstädte geben (darunter auch Zürich), heute sind es gut 500. Seit dem Jahr 2007 leben erstmals in der Geschichte des Planeten mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. 2035 sollen bereits 62% der Menschen in Städten leben. Die örtliche Anhäufung von Humankapital in Ballungsräumen setzt ökonomisch betrachtet zweifellos Synergien frei. Einerseits steigt durch die räumliche Konzentration die Produktivität, andererseits wird die öffentliche Versorgung dank Skalenerträgen günstiger. Die eigentliche Herausforderung, welche die Urbanisierung indes birgt, ist die adäquate Versorgung von neu zuziehenden Unternehmen und Haushalten mit Flächen, welche für diese auch erschwinglich sind.
Da die Zentren meist schon belegt sind, finden zuziehende Haushalte in der Regel kaum Wohnraum an Toplagen und wenn doch, ist dieser für viele dieser Neustädter unerschwinglich. Dieses Phänomen ist auch in der Schweiz vorzufinden. Doch nicht überall da.
Zürich und der Rest
Bei einem Blick auf die Schweizer Kernstädte, namentlich Zürich, Bern, Basel, Genf, Lausanne, St. Gallen, Luzern und Lugano, zeigt sich, dass es verschiedene Muster der Urbanisierung gibt. Zürich nimmt da eine Ausnahmestellung ein, als einzige Grossstadt der Schweiz, die sowohl als Arbeitsort als auch als Wohnort überdurchschnittlichen Zuwachs erfährt und mit Abstand das grösste Bevölkerungswachstum realisiert. St. Gallen liegt beim Beschäftigungswachstum zwar weit vor Zürich (Rang drei) und dem Zweitplatzierten Lugano, in St. Gallen ist das Bevölkerungswachstum aber sehr bescheiden und auch in Lugano fällt es tiefer aus als das Wachstum der Arbeitsplätze. Das ist gleichbedeutend mit einem höheren Pendleraufkommen in St. Gallen oder Lugano.
Da nicht nur in der Agglomeration Zürich die verkehrstechnische Erreichbarkeit zum kritischen Engpassfaktor geworden ist, sondern auch anderswo in der Schweiz die Zahl der Staustunden kontinuierlich zunimmt, werden sich die Städte zunehmend als attraktive Wohnorte positionieren müssen, um nicht weiter Leidtragende der steigenden Pendlerströme zu sein. Bei der Definition der attraktiven Wohndestination scheiden sich indes die (politischen) Gemüter. Denn was anzieht, ist schliesslich auch gefragt und daher teurer. Günstig und attraktiv beissen sich ganz klar in den Schwanz und die Berliner Übung könnte auch ein Schuss nach hinten sein, in dem sie der Attraktivität Berlins schaden. Wir schielen ja immer gern Richtung Norden, wenn sich da etwas Ungewöhnliches oder vermeintlich Neues anbahnt und neigen dazu, etliches davon zu adaptieren.
Man kann nur hoffen, dass Berlin in Zürich oder in anderen Schweizer Städten nicht weiter Schule macht. Sonst heisst es bald wieder einmal, lieber raus anstatt in die Stadt. So wie damals zu Zeiten der Stadtflucht. Diese tat Zürich bekanntlich gar nicht gut. Sesshaft werden die Menschen noch immer am ehesten da, wo es Arbeit gibt und nicht da, wo der Wohnraum am Günstigsten ist. Soviel fürs Erste zum Thema Urbanisierung.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen