In der NZZ am Sonntag war jüngst zu lesen, dass die Fälle von Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen dramatisch zugenommen hätten. In der Tat zeigen diesbezüglich präsentierte Statistiken steil nach oben. Über 80% mehr Arbeitsunfähigkeiten wegen psychischer Krankheiten gemäss PKRück und gut 50% Steigerung der Fallentwicklungen psychischer Erkrankungen gemäss Taggeldversicherung der Swica.
Mehrheitlich handelt es sich dabei um Burnout oder Depression, wie die NZZ weiter ausführt. Das ist zweifellos ein ernstzunehmendes Problem, zumal psychische Krankheiten offenbar besonders schwerwiegend sind, da die Arbeitsunfähigkeit mit 18 Monaten doppelt so lange dauert als bei den übrigen Erkrankungen. Von den Kosten ganz zu schweigen. Schon 2012 schätzte das Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO) die „Stressfolgekosten“ auf 10 Milliarden Franken. Heute dürfte es bald doppelt so viel sein. Wenn man sich vor Augen hält, dass die gesamten Gesundheitskosten nicht ganz 85 Milliarden Franken betragen, ist „Stress“ in der Tat ein volkswirtschaftlich bedeutender Faktor.
Bei der Ursachenforschung sollte man sich allerdings nicht allein auf die Arbeitswelt allein beschränken. Quantitativ betrachtet arbeiten wir im Schnitt etwa gleichviel wie 2012. Von daher kann der Anstieg also kaum kommen. Man kann vielleicht auch mutmassen, dass Stresssymptome und Burnout heute gesellschaftlich weniger geächtet sind als in der ehemals dominierenden sogenannten Leistungsgesellschaft und sich auch immer mehr Betroffene outen, wenn sie nicht mehr mithalten können oder wollen. Die heutige Arbeitswelt erzeugt aber in einer rein quantitativen Betrachtung sicherlich weniger Stress als zu unserer Väter oder Grossväter Zeiten. Denn die arbeiteten (1950) noch 2‘400 Stunden im Jahr. Heute sind es noch rund 1‘500 Stunden. Dies weil die Wochenarbeitszeit von knapp 50 auf heute gut 42 Stunden gesunken ist und gleichzeitig die bezahlten Ferientage von zwei auf rund fünf Wochen angestiegen sind. Der Stress muss daher anderswo herkommen als aus der Arbeitswelt selbst, auch wenn die ständige Erreichbarkeit die Arbeitsintensität erhöht und manchenorts – vornehmlich im stark gestiegenen Dienstleistungssektor – die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben stark verwässert hat. Machen wir uns den Stress bis zu einem gewissen Grad nicht auch selbst?
Nicht nur reich, bitte auch schön
In meiner Kindheit war ich begeisterter Autofan. Ich kannte alle Modelle, ihre Motorisierung, ihre Leistungswerte und Masse. Ich wusste aber auch, dass sich meine Familie nie eines dieser Traumautos würde kaufen können. Wer sich damals dennoch Luxus leisten konnte, protzte auch ganz gern damit, im Glauben, er werde dafür bewundert. Er gehörte aber einer Minderheit an. Der Minderheit von Doppelverdienern, der Minderheit kinderloser (Ehe-)Paare oder der Minderheit weit überdurchschnittlich verdienender Singles. Man definierte sich in meiner Kindheit sehr, sehr stark über materielle Werte. Nur: Markenjeans oder Markenturnschuhe konnte sich damals längst nicht jeder leisten, geschweige denn teure Uhren. Heute ist das dank gesellschaftlichem Wandel und allgemein gestiegenem Wohlstand anders. Materielle Werte sind nach wie vor von Belang. Da sich aber viel mehr Menschen solche leisten können, sind sie nicht mehr die eigentlichen Statussymbole der heutigen Gesellschaft. Nach einer Luxuskarosse dreht sich heute kaum mehr wer um. Ob jemand 70‘000 Franken im Jahr verdient oder 100‘000 mag zwar relevant sein, man sieht den Unterschied aber nicht mehr unbedingt auf den ersten Blick wie früher, als 30% Einkommensunterschied sich viel stärker auf die Konsummöglichkeiten auswirkten.
Lebensmittel oder Bekleidung frassen damals die Hälfte oder mehr der Haushaltseinkommen weg. Aktuell sind es im Durchschnitt noch knapp 15%. Den Unterschied machen heute nicht die Adidas Turnschuhe sondern das Fitnessabonnement, der Bergsteigerkurs, die Poweryogakurse oder was auch immer. Zumindest glauben das viele von uns. Der gesellschaftliche Wettbewerb zur Festigung des individuellen Status hat sich sozusagen verlagert, weg vom materiellen Bereich, denn heute können sich viele vieles leisten. Reich sein allein ist nicht mehr das Differenzierungskriterium. Es braucht auch Schönheit, welcher Art auch immer, Originalität oder irgendwelche Alleinstellungsmerkmale, die uns Lifestyleberater für unsere Selbstoptimierung vorgaukeln. Heute optimieren wir unser Ego anders. Nicht über das, was wir haben, sondern über das, was wir sind. Und das kann ganz schön stressig sein.
Wellness kann Stress erzeugen
Mein Vater war zeitlebens nie in einem Fitnessstudio geschweige denn in einem Wellnesshotel. Pedicure oder Manicure waren für meine Mutter Fremdwörter. Heute weiss jedermann, was das ist und manch ein Mann geht sogar da hin. Im Fitnessstudio hat es überall Spiegel, warum wohl? Damit wir uns selbst betrachten, die Fortschritte täglich verfolgen und natürlich gaffen können, was die andern machen. Wofür braucht es beim Gewichtstemmen eigentlich Baseballmützen oder noch besser Wollmützen? Weil das ein Influencer empfiehlt. Wieso tragen so viele Männer Bärte? Weil es hip ist. Wofür brauche ich einen Personal Trainer? Und wieso zieht es uns in den Ferien in Gegenden, die man früher nicht mal vom Hörensagen kannte? Nein, nicht weil wir es uns leisten können, sondern weil uns die Trendcoaches lehren, was gerade angesagt ist. Wir müssen laufend up to date sein, um keinen Trend zu verpassen. Und wir befolgen diese Vorgaben, weil viele von uns etwas Besonderes sein oder es wenigstens erfolgreich vorspielen wollen.
Es ist aber verdammt anstrengend, beruflich erfolgreich, topfit in jedem Alter, perfekt gestylt, ein Traumpartner und idealer Vater zu sein und dabei noch gut auszusehen. Es kostet schon genug Zeit, sich darüber auf dem Laufenden zu halten, was gerade angesagt ist. Und das Schlimmste daran ist, dass alles offenbar nur dann glücklich macht, wenn man es auch mit anderen teilt. Das volloptimierte Ego muss heute via Social Media vermarktet werden. Längst sind viele von uns nicht mehr damit zufrieden, was sie haben, sie wollen es auch anderen mitteilen. Wie die Angeber damals, nur eben nicht mit ihren tollen Autos. Selbst Wellness erzeugt Stress, wenn ich danach der halben Welt mitteilen muss, wo ich war und wie es da war – mit Fotos oder Videos versteht sich. Zwei Stunden am Tag nur schon am Handy ist Zeit, die uns sonst wo fehlt. Und dann haben wir noch nicht mal die neuste angesagte Serie auf Netflix geschaut, wenn man überhaupt dazu kommt, denn laufend kommen ein SMS, eine Whatsapp oder neue Postings rein. O.K manchmal vielleicht auch ein geschäftliches E-Mail. Stress pur, kein Wunder, können mit der heutigen oberflächlichen Schnelllebigkeit immer weniger mithalten. Nicht Work erzeugt den Stress, sondern Life(style).
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen