Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Zusammenhalt

Martin Neff

Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

In der letzten Zeit habe ich mich intensiv mit dem Thema des sozialen Zusammenhaltes beschäftigt. Ich war auch an diversen Veranstaltungen zum Thema, wo es aus verschiedenen Richtungen beleuchtet wurde. Die Fragen waren stets dieselben. Hat unsere soziale Kohäsion gelitten, war sie einst also stärker und – wenn ja – warum? Ich nehme vorweg, dass ich zum Lager derjenigen gehöre, die der Meinung sind, dass die soziale Kohäsion in den letzten Jahren gelitten hat, dies zwar nicht dramatisch, aber spürbar.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Auf der Suche nach Gründen dafür stosse ich jedoch wiederholt an Grenzen. Denn woran soll man soziale Kohäsion festhalten, ist sie überhaupt messbar? Im politischen Links-Rechts-Geflecht geht es schnell einmal um Verteilungsfragen. Grundhypothese aus dem linken Lager ist meist, dass soziale Ungleichheit den Zusammenhalt gefährde, namentlich eine «ungerechte» Einkommens- oder Vermögensverteilung. Von rechts heisst es dann, dass politische Gleichmacherei der grösste Feind der sozialen Kohäsion sei. Es gibt also kaum einen gemeinsamen Nenner und entsprechend schwierig ist es, überhaupt eine sachliche politische Diskussion über das Thema zu führen.

Soziale Kohäsion ist kein objektiver Begriff und daher nur uneindeutig definiert. Viele neigen daher dazu, über soziale Ungleichheit zu argumentieren, weshalb man schnell bei Lorenz-Kurven bzw. Gini-Koeffizienten landet. Doch wird dies der Frage gerecht? Befinden wir uns da nicht rasch einmal mitten im Klassenkampf? Und wenn es dann auch noch darum geht, den Zustand damals mit heute zu vergleichen und daraus zu folgern, etwas, was sich kaum definieren, geschweige messen lässt, habe sich verbessert oder verschlechtert, wird es eigentlich haarsträubend. Dennoch würde ich gern einige Thesen in den Raum stellen. Die erste lautet, dass sich das Prinzip des Wettbewerbs und soziale Kohäsion beissen. Ich denke dabei an den spezifisch individuellen Wettbewerb, des «Jeder für sich», wie etwa im 100-Meter-Sprint der Fall.

Bei den Damen und Herren, die sich hier messen, spricht man gern mal von Diven. Der Zusammenhalt innerhalb der Sprint-Community – deren soziale Kohäsion – ist eher bescheiden. Und wenn es dann über die Kurzstrecke zur Sache geht, zählt nur noch, wer der Schnellste ist. Wenn sich vier Sprinterinnen in einer Staffel mit anderen messen, ist die Konstellation sofort eine andere. Gewinnen können nicht zwingend die vier Schnellsten, sondern die Staffel, die nicht nur auf dem Papier schnell ist, sondern auch am besten harmoniert und die Läuferinnen entsprechend ihren Talenten auf dem richtigen Streckenteil einsetzt. Am Ziel umarmen sich schliesslich alle Läuferinnen einer Staffel, soziale Kohäsion geboren aus einem gemeinsamen Ziel, für das alle bereit waren, ihr Bestes zu geben. Im Einzelwettbewerb ist der Zusammenhalt weniger zu spüren. Der wirtschaftliche Wettbewerb ist aber eher eine Individualsportart und keine Teamsport.

Die zweite These konstatiert eine Verschlechterung der sozialen Kohäsion im Zuge des durch die Globalisierung härter gewordenen Wettbewerbs. Die Globalisierung hat vor allem den Industriestaaten genützt. Entwicklungsländer konnten zwar auch Wohlstand gewinnen, aber nicht annähernd so profitieren und prosperieren, wie die hochentwickelten Volkswirtschaften. Wäre die Kohäsion grösser gewesen, wäre dies heute genau andersrum. Und die dritte These geht davon aus, dass im heutigen modernen digitalen Alltag einiges an sozialer Kohäsion auf der Strecke bleibt. Der von vielen gepflegte Individualismus, die militante Selbstbestimmung, das Recht und der Anspruch aufs Anderssein, teils um jeden Preis, sind nicht eben förderlich für den Zusammenhalt. Die sogenannte Social Community ist im Grund eher eine oberflächliche und daher recht unsoziale Gemeinschaft von Egos, obwohl sie das Potenzial für viel mehr hätte. Doch Altruisten tummeln sich nun mal weniger im Netz, da sind schon eher die Selbstdarsteller übervertreten.

Wie es um unseren gesellschaftlichen Zusammenhang bestellt ist, lässt sich objektiv also gar nicht beantworten. Zusammenhalt wird von uns allen anders empfunden, viele haben gar nur eine vage Vorstellung, was sie darunter verstehen wollen und deshalb sind die Diskussionen darüber umso anstrengender. Corona ist so ein Beispiel. Hat die Pandemie die soziale Kohäsion verbessert? Sofort scheiden sich die Geister, viele sagen ja, aber es gab bekanntlich nicht wenige, welche sich als sogenannte Coronaleugner von der Gesellschaft abwendeten. In einem Fall waren sich die Leute auf den Podien der Veranstaltungen indes einig. Die Ukrainekrise sei ein Paradebeispiel sozialer Kohäsion, sowohl in Bezug auf das Verhältnis der Ukrainer untereinander, als auch in Bezug auf die internationale Solidarität, welche der Krieg ausgelöst hat. Das ist schön zu hören, nur führt mich das zur vierten und letzten These. Not schafft Kohäsion und nicht etwa Wohlstand. Daran sollten wir ab und zu denken im wohlhabendsten Land der Welt. (Raiffeisen/mc/pg)

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