London / Brüssel – In letzter Minute haben Brüssel und London am Heiligabend ihren Handelspakt für die Zeit nach der Brexit-Übergangsphase über die Ziellinie gebracht. Das mehr als 1200 Seiten starke Dokument regelt Fragen zum Handel, der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz und dem Krankenversicherungsschutz Reisender bei Notfällen. Die wichtigsten Fragen:
Kein No Deal also, aber ist das nun ein weicher Brexit?
Nein. Die weiche Landung, die sich viele in der EU noch lange erhofft hatte, war spätestens mit dem Wahlerfolg Boris Johnsons im vergangenen Jahr vom Tisch. Grossbritannien verlässt Binnenmarkt und Zollunion und ist deutlich weiter vom Orbit Brüssels entfernt als beispielsweise Norwegen oder die Schweiz. Wirtschaftsverbände auf beiden Seiten des Ärmelkanals hatten sich deutlich mehr erhofft. Die Zusammenarbeit ist auf ein Minimum beschränkt. Der Brexit ist also eher hart. Aber es ist kein Sturz über die Klippe mit chaotischen Folgen für Wirtschaft und Menschen.
Was bedeutet das für den Handel?
Es wird erheblich schwieriger als bisher. Für Unternehmen auf beiden Seiten werden deutlich mehr Formalitäten zu erledigen sein. Zwar fallen für britische Waren durch den Handelspakt künftig keine Zölle an, doch britische Exporteure in die EU müssen vom Jahreswechsel an aufwendig nachweisen, dass ihre Produkte tatsächlich überwiegend im eigenen Land hergestellt wurden. Auch Nachweise für die Einhaltung der EU-Regeln zur Lebensmittelsicherheit und zur Einhaltung von Produktstandards müssen künftig erbracht werden.
Die britische Regierung hat angekündigt, vorerst einmal alles durchzuwinken, was aus der EU kommt. Erst nach und nach sollen Papiere vorgelegt werden müssen und Kontrollen stattfinden. Doch auf EU-Seite sieht das anders aus. Die französische Regierung kündigte am Freitag an, britische Waren vom Jahreswechsel an «massiv» zu überprüfen.
Auch für die Dienstleistungsbranche, die rund 80 Prozent der britischen Bruttowertschöpfung ausmacht, wird der Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit dem Ende der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember erheblich schwerer.
Warum war das Thema Fischerei so schwierig?
Obwohl die Fischerei wirtschaftlich kaum eine Rolle spielt, war das Thema am schwierigsten zu lösen. Das hat mit dem starken Fokus zu tun, den die britische Regierung bei den Verhandlungen auf das Thema Souveränität und Kontrolle legte. Grossbritannien müsse seine Unabhängigkeit wiedererlangen – das war das Mantra der Brexit-Befürworter seit dem Referendum im Jahr 2016. Die Kontrolle über die eigenen Fischereigewässer wurde dafür zum wirkmächtigsten Symbol. Trotzdem hat London bei den Verhandlungen grosse Zugeständnisse gemacht. Europäische Fischer müssen zunächst nur auf ein Viertel ihrer Fangquoten verzichten – gestaffelt auf fünfeinhalb Jahre. Sollte London ihren Zugang später weiter beschneiden, könnte Brüssel das mit Zöllen beantworten.
Woran hakte es zuletzt noch?
Ein weiteres kniffliges Thema war die Frage nach gleichen Wettbewerbsbedingungen. Brüssel wollte verhindern, dass die Briten ihre Standards bei Arbeitnehmerrechten und dem Umweltschutz senken und sich dadurch einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Auch die Gefahr, dass London die Standards «einfriert», während sie in der EU im Laufe der Jahre weiterhin steigen, sollte gebannt werden. Ob das der Fall ist, soll nun von unabhängiger Seite geprüft werden. Notfalls könnte die EU mit Zöllen reagieren, um ihren Markt zu schützen.
Was versprechen sich die Briten eigentlich vom EU-Austritt?
Der Austritt aus der Zollunion erlaubt Grossbritannien auf eigene Faust Freihandelsabkommen mit Drittstaaten wie den USA, Indien oder China zu schliessen. Premier Boris Johnson will das Land zudem zum global führenden Standort für Zukunftstechnologie machen. Das Vereinigte Königreich solle ein «Saudi-Arabien der Windkraft» und eine «Supermacht für Wissenschaft und Forschung» werden, kündigte er an. Elektromobilität und künstliche Intelligenz sind Bereiche, die London kräftig subventionieren will. Deswegen wohl hat sich die britische Regierung standhaft dagegen gewehrt, sich weiterhin den EU-Regeln zu staatlichen Wirtschaftshilfen zu unterwerfen. Einen gemeinsamen Rahmen müssen die Briten jedoch trotzdem einhalten.
Unterm Strich ist der ökonomische Schaden, der durch den Brexit angerichtet wird, laut Experten durch nichts wiedergutzumachen. Der Brexit gilt daher vor allem als politisches Projekt, das von einer Sehnsucht zu den goldenen Zeiten des britischen Empires angetrieben wurde. Zudem war der EU-Austritt das Vehikel für eine grundlegende Veränderung der politischen Landschaft in Grossbritannien, bei der eine bis zum Referendum marginalisierte Gruppe innerhalb der konservativen Regierungspartei das Ruder übernahm.
Was ändert sich für Deutsche, die nach Grossbritannien reisen oder auswandern?
Die Personenfreizügigkeit zwischen der EU und Grossbritannien endet mit dem 31. Dezember 2020. Das bedeutet, wer künftig in Grossbritannien arbeiten und leben will, muss ein Visum beantragen. Das soll durch ein punktebasiertes System geregelt werden, bei dem Faktoren wie die Höhe des Einkommens und die Branche eine Rolle spielen. Für Touristen wird es bei kürzeren Reisen keine Visumspflicht geben. Eine gute Nachricht ist, dass die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) unter dem Deal erst einmal gültig bleibt, solange sie nicht abgelaufen ist. Auch in der Zukunft sollen Reisende im Notfall von ihrem Krankenversicherungsschutz im Heimatland Gebrauch machen können. Nicht im Abkommen geregelt, aber dennoch wichtig für Grossbritannien-Touristen dürfte sein, dass die grossen Telefonanbieter weiterhin keine Roaming-Gebühren erheben wollen.
Gefährdet der Brexit den Frieden in Nordirland?
Die Gefahr, dass zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitgliedsstaat Irland Grenzkontrollen eingeführt werden müssen, wurde eigentlich bereits im Austrittsabkommen gebannt. Für den Fall wurde mit einem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen mehrheitlich katholischen Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und überwiegend protestantischen Anhängern der Union mit Grossbritannien in Nordirland gerechnet. Nachdem die Regierung in London die Regelung des Austrittsvertrags mit einem Gesetzesvorhaben zunächst infrage gestellt hatte, lenkte sie inzwischen ein. Nordirland erhält damit einen Sonderstatus und bleibt enger an die EU gebunden als der Rest des Königreichs.
Was bedeutet der Deal für die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz?
Hier bleiben beide Seiten verhältnismässig eng zusammen. Die Kooperation britischer Behörden mit den EU-Agenturen Europol und Eurojust soll weiterlaufen. Aber London kann die Regeln für diese Agenturen nicht mehr mitgestalten. Auch gibt es Vorkehrungen für eine enge Zusammenarbeit der britischen Polizei und Justiz mit denen der EU-Staaten. Auf bestimmte EU-Datenbanken haben die Briten künftig keinen Zugriff mehr – etwa das Schengener Informationssystem, in dem unter anderem zur Fahndung ausgeschriebene Personen gespeichert werden. Wohl aber kann das Vereinigte Königreich weiter auf die EU-Datenbank zur Fluggastdaten-Speicherung, auf Fahrzeugregisterdaten oder das EU-Strafregister zugreifen. Auch bei grenzüberschreitenden Gefahren für die Gesundheit – siehe Corona – und dem Austausch geheimer Informationen soll weiter zusammengearbeitet werden.
Welche Bereiche sind nicht im Brexit-Handelspakt geregelt?
Das Thema Aussen- und Sicherheitspolitik wurde auf Wunsch der britischen Regierung von den Verhandlungen ausgenommen. «Vom 1. Januar an wird es keinen Rahmen zwischen Grossbritannien und der EU geben, um eine koordinierte Antwort auf aussenpolitische Herausforderungen zu entwickeln und zu koordinieren», heisst es in einer Übersicht der EU-Kommission. Das betreffe beispielsweise Sanktionen gegen Einzelpersonen oder die Wirtschaft von Drittstaaten.
Auch die automatische Anerkennung von Berufsabschlüssen fällt weg. Beispielsweise Ärzte, Ingenieure und Architekten und viele weitere Berufsgruppen müssen ihre Qualifikation künftig nach den Regeln der einzelnen Länder, in denen sie arbeiten wollen, nachweisen.
Wie geht es nun weiter?
Aufgrund des Zeitdrucks muss improvisiert werden. Ab Januar soll der Handelspakt zunächst vorläufig angewendet werden. Dafür müssen alle 27 EU-Staaten sowie einige nationale Parlamente zustimmen. Das Europaparlament wird den Vertrag dann im Januar nachträglich prüfen – und könnte ihn theoretisch ablehnen. Das britische Parlament soll das Abkommen am 30. Dezember durchwinken. (awp/mc/ps)