Digitale Transformation: Mehr Macht für die Menschen
Die Wirtschaft und insbesondere die Finanzindustrie befinden sich in einem fundamentalen Umbruch. Aus schwachen Signalen wurden Erschütterungen, daraus Revolutionen und Umstürze. Wir können versuchen diese Entwicklungen zu verstehen, weiter zu denken und daraus unsere Zukunft zu gestalten. Oliver Fiechter leistet mit seinem Buch «Die Wirtschaft sind Wir!» einen aktuellen und beachtenswerten Beitrag. Wir stellen deshalb in loser Folge Ausschnitte aus dem Buch vor.
Oliver Fiechter: «Die Wirtschaft sind Wir!» Die Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung im Zeitalter der vernetzten Märkte.
«Wohlstand für alle durch wirtschaftliches Wachstum»: So lautet seit Jahrhunderten sinngemäss die Maxime unseres westlichen Wirtschaftsliberalismus. Seit der schottische Philosoph und Nationalökonom Adam Smith im Jahre 1789 mit «Wohlstand der Nationen» das Standardwerk der modernen Wirtschaftstheorie vorgelegt hat, ist diese Maxime zum Werteideal unserer Zeit aufgestiegen. Heute ist der Optimismus vergangener Jahrzehnte verflogen. Angst und Pessimismus haben den Menschen in Besitz genommen. Der Glaube an die Lehre von Adam Smith und seinen Homo oeconomicus – diese wundersame Konstruktion, die, geleitet von einer unsichtbaren Hand, Eigennutz und Eigeninteresse in allgemeines Wohl verwandelt – ist verflogen. Den Menschen wird immer mehr klar, dass es in einer begrenzten Welt kein grenzenloses Wirtschaftswachstum geben kann. Die Welt leidet unter Nahrungsmittelknappheit, dem Klimawandel, der Überbevölkerung. Der Lebensstandard ist in Europa und Amerika in den letzten fünf bis zehn Jahren dramatisch eingebrochen. In Europa hetzen Regierungsvertreter von Krisengipfel zu Krisengipfel: Finanzkrise, Schuldenkrise, Bankenkrise. Die westlichen Demokratien stehen vor einer historischen Bewährungsprobe.
Die Party des 20. Jahrhunderts ist endgültig vorbei
Katerstimmung herrscht, die Menschen sind gereizt, und die anomischen Spannungen wachsen. Bei vielen kommt das Gefühl hoch, zu lange mit leeren Versprechungen abgespiesen worden zu sein. Der Kapitalismus entzweit die Menschen: Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt vierzig Prozent des weltweiten Reichtums. Die liberalen Marktwirtschaften westlicher Prägung durchlaufen fundamentale Veränderungen; aus Demokratien werden Demokraturen, real- und finanzmarktwirtschaftliche Gewichte verschieben sich, und die Profitabilität ehemals gewinnbringender Wirtschaftszweige bricht unter dem globalisierten Konkurrenzdruck ein. Das kapitalistische System ist in einer grossen Krise, weil es den Weg zu seiner Erneuerung noch nicht gefunden hat. Das Verhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und Ökonomie ist von gegenseitigem Misstrauen geprägt.
Die 99-Prozent- Gesellschaft übt erstmals in diesem Jahrhundert den Aufstand
Als ich dieses Buch vor gut einem Jahr zu schreiben begann, hatte ich schwache Signale fundamentaler Veränderungen empfangen. In den letzten zwölf Monaten wurden diese Signale immer stärker: der Arabische Frühling; die Massenproteste in Megastädten wie New York und jüngst in Moskau; die gewalttätigen Ausschreitungen in London; die Anonymous-Operationen im Internet, welche gezielt Attacken gegen wirtschaftliche und institutionelle Machtapparate durchführen. Die 99-Prozent- Gesellschaft übt erstmals in diesem Jahrhundert den Aufstand. Heute ist der Aufstand salonfähig. Das «New York Times Maga- zine» kürte im Dezember 2011 den «Protester» als Person des Jahres: eine offenkundige Huldigung in Richtung Occupy-Bewe- gung und deren Besetzungen der Finanzplätze rund um die Welt. Das «New York Times Magazine» ehrt damit zum ersten Mal kein Individuum, sondern die anonyme Masse. Die Menschen fordern von den Unternehmen, sich als wichtige Akteure in der Gesellschaft zu verstehen, die an der Umsetzung eines gesamtgesellschaftlichen Zieles beteiligt sind. Sie verlangen den Wandel, sie wollen ihre Bedürfnisse von den Unternehmen besser berücksichtigt wissen. Kürzlich war ebenfalls in der «New York Times» zu lesen, die reichen Nationen des Westens müssten sich wappnen für den «Tag der Abrechnung». Diese Feststellung teile ich. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Revolution kommt oder nicht, sondern wie wir ihr begegnen: Anarchie oder strukturierter Wandel? Das vorliegende Buch ist so etwas wie die Chronik dieser «Wir-Revolution». Es ist aber nicht ausreichend, weil nicht zielführend, sich zu empören und gegen die Macht der Banken und die Gier der Grosskonzerne zu skandieren. «Die Wirtschaft sind wir!» soll zur Erkenntnis verhelfen, dass wir alle die Verantwortung mittragen für den desolaten Zustand, in der sich unsere Welt befindet. Es zwingt uns, einzusehen, dass es an uns liegt, die Wirtschaft und damit die Lebensumstände von Millionen von Menschen zu verbessern. Wir sind die Macht. Wir müssen nur im Gemeinsamen, im Wir denken und uns nicht länger auf die Mächtigen dieser Welt verlassen. Die Mächtigen brauchen uns mehr als wir sie.