Bern – Forschenden der Universität und des Inselspitals Bern ist es erstmals gelungen, menschliche Innenohr-Zellen im Labor zu erzeugen und deren Herkunft zu untersuchen. Dies wird es in Zukunft ermöglichen, neue Behandlungsmethoden für Hörbeeinträchtigung zu erforschen.
Rund 5% der Weltbevölkerung leidet an Schwerhörigkeit. Sie hat weitreichende Auswirkungen für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes. Allein der Hörverlust bei Erwachsenen zählt zu den fünf grössten Krankheitslasten in Europa und verursacht enorme sozioökonomische Kosten. Die Hörfähigkeit kann zwar mit Hörgeräten oder Implantaten verbessert werden, eine wirksame Ursachenbehandlung bei Hörbeeinträchtigungen gibt es aber bis heute nicht.
Eine Gruppe von Forschenden des Department of Biomedical Research (DBMR) der Universität Bern und der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie des Berner Inselspitals hat nun in Zusammenarbeit mit weiteren Beteiligten des internationalen Konsortiums «OTOSTEM» einen grossen Schritt in Richtung Ursachentherapie von Schwerhörigkeit gemacht. Erstmals gelang es ihnen, die Entwicklung von menschlichen «Haarzellen», die im Innenohr für die Geräuschrezeption zuständig sind, in-vitro (im Labor) nachzuahmen. Damit wird es in Zukunft möglich sein, neue Behandlungsmethoden für Hörbeeinträchtigung direkt an menschlichen Zellen zu erproben. Die Studie wurde im Fachmagazin «Nature Communications» publiziert.
Der Weg zum fertigen Geräusch
Unsere Fähigkeit zu hören, hängt von der aufeinander abgestimmten Aktivität von zwei spezialisierten Sinneszelltypen im Innenohr, genauer gesagt in der Hörschnecke (Cochlea), ab. Die sogenannten Haarzellen fungieren als Schallrezeptoren, indem sie auf Vibrationen reagieren, die durch Geräusche verursacht werden. Die Haarzellen setzen chemische Botenstoffe frei, die wiederum die sogenannten Spiralganglienzellen stimulieren. Diese Zellen bilden den Hörnerv, der die Informationen an das Gehirn weiterleitet, wo diese als Geräusch wahrgenommen werden. Diese Zelltypen sind in einem komplexen Mosaik organisiert. Das ermöglicht uns, verschiedene Schallintensitäten und Frequenzen mit beispielloser Geschwindigkeit und Genauigkeit wahrzunehmen.
Hörzellen wachsen nicht nach
Haarzellen und Spiralganglienzellen entstehen sehr früh in der fetalen Entwicklung, etwa in der zehnten bis elften Schwangerschaftswoche. Bereits in diesem Stadium erreichen sie ihre endgültige Zahl. «Wir werden mit rund 15’000 Haarzellen und 30’000 Spiralganglienzellen geboren, von da an nimmt ihre Zahl nur noch ab», so Marta Roccio. Laute Geräusche, Infektionen, Alterungsprozesse oder auch die Belastung durch Giftstoffe wie etwa verschiedene Antibiotika setzen den Sinneszellen fortan zu. Da die Zellen bisher nicht ersetzt werden können, führt ihr Verlust zu einer dauerhaften Hörschädigung.
Cochlea-Haarzellen aus dem Labor
«Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass vieles, was wir bereits aus dem Tiermodell kennen, auch für die menschliche fetale Entwicklung der Sinneszellen zutrifft», sagt Marta Roccio. Dank dieser Erkenntnis konnten die Forschenden eine kleine Population von Stammzellen-ähnlichen «Vorläuferzellen» identifizieren, die nach mehrwöchiger struktureller und funktioneller Differenzierung schliesslich die Cochlea-Haarzellen bilden. «Wir haben eine Methodik entwickelt, um diese Vorläufer aus der menschlichen fötalen Cochlea zu isolieren und im Labor schliesslich die Bedingungen für die in-vitro-Generierung funktioneller Haarzellen optimiert», erklärt Roccio. Dazu verwendeten die Forschenden dreidimensionale Kulturen, auch bekannt als Organoide.
«Die Ergebnisse der nun publizierten Studie stellen eine einzigartige Vorlage für zukünftige Forschungsprojekte auf dem Gebiet dar, um neue Strategien zur Bekämpfung von neurosensorischem Hörverlust zu entwickeln», erklärt der Mitautor Pascal Senn. Denn die Ergebnisse würden einen «Bauplan» liefern für die Erzeugung von Cochlea-Haarzellen aus anderen, häufigeren Zellquellen, wie beispielsweise pluripotenten Stammzellen, so Senn weiter. Dies werde den Weg für Tests ebnen, die auf patienteneigenen Zelltypen basieren und eine individuellere Behandlung ermöglichen. (Universität Bern/mc/pg)