Ende Sommer, Ende Coronakrise. Mit Impfung und dank, oder trotz, Bundesrat
Bis Ende Juli sollen in der Schweiz gemäss Bundesrat Alain Berset alle, die sich impfen lassen wollen, die Impfdosen erhalten haben. Damit würden dann auch die Massnahmen entfallen. Unter zunehmendem Druck aus Politik, Bevölkerung, Wirtschaft und nach dem jüngsten Debakel um die Plattform meineimpfungen.ch ergreift der Bundesrat die Flucht nach vorne.
Von Helmuth Fuchs
Das Licht am Ende des Tunnels für all jene, die mit dem dazugehörenden Blick unterwegs sind, wird heller. Dank der Zusage von Pfizer und Moderna zur Lieferung der vereinbarten Impfdosen sollen bis Ende Juli die geschätzten 5.3 Millionen Impfwilligen (75% der erwachsenen Bevölkerung) geimpft sein. Durch den Bundesrat nicht zu kontrollierende Risiken sind Lieferengpässe, politische Störmanöver der EU und aggressivere Mutationen des Viruses.
«Me first» statt vereinbartes gemeinsames Vorgehen
Hatte Boris Johnson einen guten Anteil daran, dass Grossbritannien in der ersten und zweiten Welle eine hohe Zahl an Todesfällen auswies, führte er dann mit einer aggressiven Impfstrategie (Aufkauf und Zurückhaltung vereinbarter Impfstoffe, möglichst Vielen die Erstimpfung zukommen lassen und die Zweitimpfung dann, wenn wieder Impfdosen erhältlich sind) Grossbritannien in eine aktuell sehr komfortable Situation. Zum Ärger der EU, die wegen Mangel an Impfstoffen mit Exportbeschränkungen gegen Grossbritannien droht.
Während die UNO und der UN-Sicherheitsrat (mit einer Resolution) für eine weltweit gerechte Impfstoffverteilung plädierten, machten vor allem Israel, die USA und Grossbritannien mit Hochdruck vorwärts. Wenn es um das Wohl der eigenen Bevölkerung geht, greifen vor allem Regierungen, die sich gerade in einem Wahlkampf oder einer politisch instabilen Situation befinden, zum «wir zuerst»-Ansatz.
Bundesrat setzte auf die richtigen Impfstoff-Pferde
Der Bundesrat hat bei der Impfstoffbeschaffung eigentlich alles richtig gemacht, auf die richtigen Hersteller gesetzt (Pfizer, Moderna), diese sehr schnell zugelassen und sich auch genügend Impfdosen gesichert. Die Lieferverzögerung kann nicht dem Bundesrat angelastet werden, ebenso wenig, dass sich andere Staaten aggressiver vordrängelten. Falls alle Impfwilligen bis Ende Juli geimpft werden können, steht die Schweiz auch im europäischen und internationalen Vergleich mit den meisten anderen vergleichbaren Staaten gut da.
Beschämender Zustand, dilettantisches Vorgehen bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Viel schlimmer ist der Zustand bei der Digitalisierung und dem Informationscockpit in der Coronakrise. Das Bundesamt für Gesundheit stolpert von einem Versagen zum nächsten, interessanterweise ohne dass dadurch die Popularität des zuständigen Bundesrates, Alain Berset, leidet.
Zuletzt musste die für das Impfregister und den digitalen Immunitätsnachweis präferierte und vom BAG auch finanziell unterstütze Plattform meineimpfungen.ch wegen massiver Sicherheitslücken vom Netz genommen werden. Aufgedeckt wurden diese nicht bei der Überprüfung durch das BAG, sondern vom Online-Magazin Republik.
Nach holprigen Fax-Übermittlungen von relevanten Infektions- und Todesfallzahlen, einer zu Beginn jämmerlichen Datenbasis (mittlerweile besser, wenn auch immer noch mit vielen Lücken und nicht auf einem technisch adäquaten Stand), stolpert das BAG auch nach einem Jahr Krise mit Bleifüssen durch die Digitalisierung. Die SwissCovid App, obschon bezüglich Sicherheit und Schutz der Privatsphäre eine vorbildliche Lösung, scheiterte auch wegen fehlender Unterstützung der politischen Behörden und spielt bei der Pandemie nur eine nebensächliche Rolle. Dabei hätte gerade ein verbindlicher Einsatz der App zum Beispiel beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Transportmitteln wertvolle Informationen zu Ansteckungsorten liefern und somit auch die Teststrategie massgeblich verbessern können. Stattdessen wird auch heute noch mehr oder weniger im Blindflug rumgetestet, ohne wirkliche Erkenntisgewinne, dafür zu Kosten in Milliardenhöhe.
Wieder Angst und Keule statt positiver Wettbewerb und Skalpell
Hat der Bundesrat in den letzten Wochen für kurze Zeit den Blick auf mögliche Ausstiegs-Schritte aus der Krise geworfen und dafür nötige Rahmenbedingungen definiert, ist er inzwischen wieder zur üblichen und medial unterstützten Schwarzmalerei zurückgekehrt.
Scheinbar ist er der Meinung, dass sich die Bevölkerung besser an auch unverständliche Massnahmen hält, wenn nur genügend Angst vor einer Verlängerung der Krise herrscht. Anstatt die Zielwerte zur Lockerung zu verfolgen und diese mit gezielten Massnahmen zu unterstützen, wird jetzt wieder die Verschärfung der Massnahmen ins Blickfeld geschoben und die Zahlen werden darauf ausgerichtet.
Die Lockerungen sind jetzt vollständig von der Durchimpfung abhängig und können erst am Ende einer Phase bei Erreichung der Richtwerte erfolgen:
- Phase 1: Bis alle Personen aus Risikogruppen vollständig geimpft sind
- Phase 2: Sobald alle Personen aus Risikogruppen geimpft sind
- Phase 3: Sobald alle Personen geimpft sind, die sich impfen lassen wollen
Mildere dritte Welle trotz steigender «Fallzahlen»
Obschon die Anzahl der positiven Tests seit Anfang März wieder ansteigt, dürfte es auch ohne weitere Verschärfungen keine ähnliche Situation wie bei der zweiten Welle geben. Ein Teil des Anstieges hat damit zu tun, dass die Tests von rund 30’000 pro Tag auf über 40’000 erhöht wurden. Bei ähnlichen Testzahlen in der zweiten Welle lag die Zahl der positiv Getesteten bei etwa 5’000, heute bei etwa 2’000.
Die über 70-Jährigen, die den grössten Teil der Hospitalisierten und der Toten ausmachte, werden kontinuierlich geimpft. Das führt zu weniger schweren Verläufen und tieferen Todesfallzahlen.
Der Zugang zu Tests (Schnelltests und Selbsttest) wurde und wird vereinfacht, was den Schutz der gefährdeten Personen signifikant vereinfacht. Zudem kann jede Person sich mit dem heutigen Wissensstand und mit Blick auf eine baldige Impfung selbst sehr gut schützen (Abstand, Hygiene, Meiden von Menschenansammlungen, in Innenräumen Tragen einer FFP2-Maske, Stärkung des Immunsystems).
Sollten die wichtigsten Zahlen (Belegung von Spitalbetten und Intensivpflegeplätze durch Corona-Patienten, Todesfälle) trotz der bestehenden Massnahmen wieder bedeutend ansteigen, wäre es angebracht, gezielt Schulen, ÖV, Ferienflüge und Grenzkontrollen als Einzel-Massnahmen an Hotspots zu prüfen, bevor wieder die gesamte Bevölkerung und eher unbeteiligte Wirtschaftsbereiche mit Restriktionen belegt werden.
Ein in «Science» veröffentlichter Artikel vom Februar 2021 untersuchte die Wirksamkeit der unterschiedlichen Massnahmen. Die Schliessung aller Bildungseinrichtungen, die Begrenzung von Versammlungen auf 10 Personen und die Schliessung frequentierter Geschäfte reduzierten die Übertragung jeweils erheblich. Der zusätzliche Effekt von Hausarrest war vergleichsweise gering.
Aktuelle Situation
Nach einer klaren Übersterblichkeit bei den über 80-Jährigen im letzten Jahr, einer im Vergleich zu 2015 ähnlichen Übersterblichkeit der 65-79-Jährigen und einer im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015-2019 bei allen anderen Altersgruppen unterdurchschnittlichen Sterblichkeit, ist aktuell bei den über 65-Jährigen eine deutliche Untersterblichkeit zu verzeichnen, bei allen anderen Altersgruppen eine Sterblichkeit am unteren Rand der erwarteten Werte.
Die Belegung von Spitalbetten und Intensivpflegeplätze durch Coronapatienten stellt zur Zeit keine besonderen Herausforderungen für die Spitäler dar.
Der Anteil der positiven Test in der Schweiz hat sich bei etwa 5% stabilisiert, trotz des Anstieges der Mutationen von Beginn des Monats von 70% auf aktuell rund 90%.
Die immer noch nicht verstummten Stimmen, die einen harten Lockdown und ZeroCovid fordern, ignorieren die politische Machbarkeit und die Unterstützung in der Bevölkerung für strengere Massnahmen, als wir sie aktuell haben. Der «7. SRG Corona-Monitor» von Sotomo gibt hier ein relativ klares Stimmungsbild:
«Zunehmende Unzufriedenheit mit dem Lockdown: Mit jeder Befragungswelle nimmt der Anteil in der Bevölkerung zu, welcher der Ansicht ist, dass die Lockdown-Massnahmen im Bereich von Geschäften und Dienstleistungen zu weit gehen. Mittlerweile sind bereits 46 Prozent dieser Ansicht, während nur noch 12 Prozent finden, der aktuelle Lockdown gehe zu wenig weit». 7. SRG Corona-Monitor
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