Jahrelang führte Sonja Dinner ihr eigenes IT-KMU. 2001 verkaufte sie die Firma und unterstützt seither nicht nur die Ärmsten der Welt, sondern engagiert sich auch in der Schweiz für Menschen und kleine Unternehmen, die durch die Coronakrise besonders hart getroffen werden. Ein Gespräch über Entwicklungshilfe und was ausgelagerte Wertschöpfung damit zu tun hat.
Interview: Mario Walser / procure.ch
Frau Dinner, wie beschreiben Sie einem Branchenfremden, was Sie tagtäglich tun?
Vor 14 Jahren gründete ich, zusammen mit zwei Partnern, die Stiftung «The DEAR Foundation». Unser Ziel ist, Entwicklungshilfe in den ärmsten Ländern der Welt in den Bereichen Bildung und Gesundheit zu leisten. All das unternehmerisch gesteuert und effizient und nachdem Ansatz «Hilfe zur Selbsthilfe». Seither haben wir weltweit über 1000 Projekte realisiert. Wir unterstützen derzeit in rund 150 Entwicklungshilfe-Projekten weltweit Menschen, die in grosser Not leben.
Wie genau interpretieren Sie die «Hilfe zur Selbsthilfe»?
Wir müssen mit Entwicklungsarbeit die Menschen unabhängig machen. Uns ist es ein grosses Anliegen, den Menschen die Chance zu geben, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Gerechtigkeit wahrzunehmen – und damit letztlich Entwicklungshilfe längerfristig überflüssig zumachen.Weil sich die Menschen dann selbst helfen können.
Wo hapert es denn in puncto Entwicklungshilfe ganz generell?
Die sogenannte Entwicklungshilfe, wie sie vor allem die westlichen Regierungen seit Jahrzehnten praktizieren, hat weder die gesetzten Ziele noch eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der Ärmsten in den Empfängerländern erreicht. Grund ist eine absolut ungenügende Wirkung der eingesetzten exorbitanten Geldmittel, da die Zusammenarbeit oft auf Regierungsebene oder rein kommerziell motiviert erfolgt. Als Folge versickert ein viel zu hoher Anteil der Hilfsgelder in Regierungskanälen und die Korruption wird in der Folge nicht nur gefördert, sondern tief in diesen Volkswirtschaften verankert. Ich denke, viele Entwicklungshilfe-Organisationen haben noch Optimierungspotenzial, wenn es darum geht, ihre «Lieferketten» zu managen.
Welche Lehren haben Sie für Ihre Organisationen daraus gezogen?
Entwicklungshilfe kann nur durch unternehmerisch seriös geführte Institutionen wirkungsvoll und nachhaltig realisiert werden. Wir finanzieren beispielsweise nie Regierungen, sondern immer nur lokale, private Institutionen, die wir kennen, regelmässig vor Ort überprüfen und die uns im Rahmen eines regelmässigen Reportings über die erfolgten Aktivitäten und die erreichten Ziele Rechenschaft ablegen müssen. Nur so können wir unsere Geldmittel effizient einsetzen.
Kommen wir auf Covid-19 zu sprechen. Weshalb funktionieren die Lieferketten gesamtwirtschaftlich und global gesehen nicht?
Die lange Jahre prosperierenden, westlich geprägten Wirtschaften haben immer mehr Wertschöpfungsprozesse ausgelagert. Beispielsweise nach Asien. Vor allem China beliefert uns mittlerweile seit Jahrzehnten mit Rohstoffen, Verbrauchsmaterialien und Investitionsgütern. Ein solch permanentes, jahrelanges Outsourcing von zentralen Produktionsprozessen hat uns abhängig gemacht. Nicht wenige Unternehmen, auch hierzulande, erfahren aktuell in äussert unangenehmem oder gar existenzbedrohendem Mass, wie verletzlich sie durch das beliebte Modell der globalen Arbeitsteilung geworden
sind.
Und wie wirkt man dem entgegen?
Wir sollten einen gewissen Anteil der Wertschöpfung wieder «nach Hause» holen und nicht mehr blindlings auf das reibungslose Funktionieren internationaler Lieferketten vertrauen. Das Coronavirus hat die Schwächen in der Beschaffungsstrategie multinationaler Produzenten schonungslos entlarvt.
Welchen Stellenwert hat denn die Beschaffung Ihrer Ansicht nach in dieser Wertschöpfungskette?
Die Beschaffung – im weitesten Sinn verstanden – hat einen überaus tiefgreifenden Einfluss auf das, was in Zukunft passieren wird, und eine eminent wichtige Rolle in der Wertschöpfungskette. Ohne Beschaffung läuft in der Wirtschaft , auch hierzulande, gar nichts.Ich habe jedoch die Hoffnung, dass Ihre Mitglieder sich ihrer Rolle bewusst sind. Nachhaltige Wertschöpfung geht sowohl in der Entwicklungshilfe, als auch in der Beschaffung davon aus, dass eine nachhaltige Entwicklung nur durch das gleichzeitige und gleichberechtigte Umsetzen von umweltbezogenen, wirtschaftlichen und sozialen Zielen erreicht werden kann. Nur auf diese Weise kann die ökologische, ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft verbessert und sichergestellt werden.
Frau Dinner – sind Sie ein Gutmensch oder bezeichnen Sie sich eher als Philanthropin im Sinne von Bill Gates und Konsorten?
Es gibt wohl niemanden auf der Welt, der seine Taten, welche es auch immer sein mögen, gänzlich ohne Eigengewinn vollbringt. Mein Antrieb oder, wenn Sie so wollen, auch Eigengewinn ist, etwas bewegen zu können und im Rahmen meiner Möglichkeiten eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Auch wenn ich mein Unternehmen schon vor Jahren verkauft habe, bin ich nach wie vor Unternehmerin. Ich sehe auch meine Tätigkeit in der Entwicklungsarbeit deshalb sehr unternehmerisch. Gutmenschen hingegen sind getrieben davon, unbedingt Gutes tun zu wollen, und eignen sich dabei schnell einmal ein moralisierendes, missionierendes Verhalten an. Dabei geht die nötige Professionalität verloren. Auch in der Entwicklungshilfe benötigt es einen gut gefüllten Rucksack an geschichtlichem, kulturellem und religiösem Hintergrundwissen, und man muss Prozesse verstehen und analysieren können. Das hilft , den Überblick über die grossen Zusammenhänge zu behalten. Wer in einem Unternehmen übergreifende Zusammenhänge nicht erkennt, kann auch philanthropisch nicht erfolgreich tätig sein.
Fokussieren wir auf die erwähnte Leistungsfähigkeit – durch Corona gibt es nun auch hierzulande Menschen, die in Not geraten sind …
Da gebe ich Ihnen Recht. Während des Lockdowns hat sich auch in der Schweiz eine Dynamik entwickelt, die viele von uns in diesem Ausmass nicht für möglich gehalten hätten. Mit der Folge, dass viele hier wohnhafte Menschen aus einem nur vermeintlich permanenten Aufschwung jäh herausgerissen werden. Diesen droht nun ein genauso jäher Absturz. Und einige haben das noch gar nicht realisiert.
Haben Sie Pläne, auch hier Unterstützung zu leisten?
Ja! Und wir sind schon aktiv geworden. Genau deshalb haben wir kürzlich eine neue Stiftung ins Leben gerufen. Mit «DEAR Foundation– Solidarité Suisse» unterstützen wir Menschen in der Schweiz, die durch die Pandemie unvorbereitet und unverschuldet in eine desolate wirtschaftliche Situation geraten sind, aus der sie sich selber kaum mehr werden befreien können. Meist sind es Niedriglohnarbeitende, die Gefahr laufen, ihren Job zu verlieren, oder diesen bereits verloren haben. Auch für die Ü50er sind die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt dadurch nicht besser geworden. All das hat zur Folge, dass viele keinen Job mehr finden werden. Dabei brauchen wir alle eine Aufgabe und eine Arbeit, auch für unser
psychisches Wohlbefinden.
Wie gehen Sie die nationale Unterstützung konkret an?
Gegenwärtig führen wir Gespräche mit diversen schweizerischen Verbänden über die Modalitäten einer möglichen konkreten Unterstützung. Die Ü50er möchten wir in den kommenden Monaten durch Coaching, Beratung und Personalvermittlung unterstützen. Denkbar ist es, diesen Menschen Umschulungen anzubieten, etwa in den personell seit Jahren chronisch unterbesetzten Pflegebereich.
Entwicklungshilfe benötigt, genauso wie der Einkauf, immer auch finanzielle Ressourcen. Wie finanzieren sich Ihre Stiftungen?
Bei der global tätigen «The DEAR Foundation» finanziert ein möglichst gut angelegtes Stiftungsvermögen die gesamte Struktur. Das heisst, dass wir aus dem Stiftungsvermögen beispielsweise die Verwaltungskosten bezahlen. So können alle Spenden direkt in die Projekte fliessen. Natürlich nehmen wir gerne Zuwendungen und Legate an – aber wir sind nicht darauf angewiesen. Bei «Solidarité Suisse» hingegen sind wir auf Spenden angewiesen.
Reichen Appelle an die Solidarität?
Ich appelliere an die Grossherzigkeit der Menschen. Doch ich halte es zugleich auch für eine moralische Pflicht von uns allen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten einen Solidaritätsbeitrag zu leisten. Denn die Coronakrise trifft uns und unser Umfeld ja ausnahmslos in irgendeiner Form. Es soll ein Ruck durch die Gesellschaft gehen, der uns zusammenhalten lässt. Nur, wenn wir uns solidarisch zeigen, können wir den sozialen Frieden in der Schweiz wahren. Jeder Einzelne von uns muss jetzt Opfer bringen. Ich bin mir sicher, dass das die meisten Menschen, gerade angesichts der aktuellen Situation, gut nachvollziehen können. Solidarisch zu sein, ist eigentlich ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Doch natürlich reicht es längst nicht aus, einfach nur Emotionen zu schüren …
Spenderinnen und Spender sind also die Partner in Ihrer Wertschöpfungskette. Wie bringen Sie diese Menschen zum Spenden?
Es geht darum, Vertrauen zu schaffen und die Entwicklungshilfe transparent, effektiv und auch effizient zu leisten. Die Spenderinnen und Spender müssen wissen, wie ihr Geld von uns eingesetzt wird. Im Gespräch finde ich heraus, wo die Spende meines Gegenübers in dessen Augen am besten eingesetzt wird. Spenden fällt nämlich dort leichter, wo auch ein persönliches Interesse, ein Bezug besteht.
Wie genau punkten Sie in den Augen der Spende bereiten in Sachen Effektivität und Glaubwürdigkeit?
Mein eigener beruflicher Werdegang verschafft mir hier sicherlich die nötige Glaubwürdigkeit. 2002 – nach dem Verkauf meiner Firma – habe ich mich ganz bewusst für eine Tätigkeit im humanitären Bereich entschieden.Meine Ansprechpartner sind sich also im Klaren, dass ich mit Geld umgehen kann und ihre Spende so nutzbringend wie nur möglich einsetzen werde. Ausser
dem lebe ich selber mit meinen diversen ehrenamtlichen Engagements genau die Solidarität, die ich auch bei den Leuten wecken will.
Nun hat nicht jeder ein gleich gut gefülltes Portemonnaie …
Das ist eine Tatsache, aber alle können helfen. Superreiche sollten sich mit entsprechend hohen Beträgen einbringen. Doch auch Normalverdienende können ihre Solidarität mit einer Spende nach ihren individuellen Möglichkeiten ausdrücken.
Wie spendet man denn richtig?
Eigentlich geht man vor wie im professionellen Einkauf. Es gilt eine bis zwei Hilfsorganisationen auszuwählen, die Sie überzeugen in Sachen Philosophie, Projekte, Transparenz und Spendeneinsatz. Bleiben Sie den gewählten Organisationen treu und wechseln Sie nicht ständig. Es sei denn, gravierende Vorfälle beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit der Organisationen. Erstellen Sie ein Spendenbudget. Teilen Sie der von Ihnen ausgewählten Organisation mit, wie viel Sie für welches Projekt spenden werden. Das hilft den Verantwortlichen bei der Planung und der Budgetierung. Und – unterstützen Sie statt einer Kinderpatenschaft eine Projektpatenschaft. Diese ermöglichen einem ganzen Dorf etwa Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Handeln Sie also nach besten Einkäuferstandards.Übrigens – wer seine Solidarität zeigen möchte, darf sich jederzeit gerne bei mir melden. (procure.ch/mc/ps)
Sonja Dinner
Als Kind wollte sie Pilotin werden, absolvierte dann aber das KV. Kaum zwanzigjährig ging sie in die USA, wo sie bald darauf erste Kontakte ins Silicon Valley knüpfte. Sonja Dinner packte daraufhin die Chance, eine Ausbildung bei IBM zu durchlaufen. Später gründete die gebürtige Baslerin ihr eigenes IT-Unternehmen. Heute realisiert Sonja Dinner mit ihrer Stiftung «The DEAR Foundation» Entwicklungsprojekte in aller Welt. Mit der weltweit lancierten «DearMamma»-App im Rahmen der «DearMamma»-Kampagne werden Frauen – insbesondere auch in armen Ländern – in der Früherkennung von Brustkrebs und der regelmässigen Selbstabtastung unterstützt. Die Stiftung DEAR Foundation – Solidarité Suisse wurde im Sommer 2020 ausschliesslich für Hilfsbedürftige in der Schweiz gegründet, die durch die Pandemie in Not geraten sind, und sammelt dafür Spenden unter www.solidaritesuisse.ch. Die 57-Jährige lebt im Aargau auf ihrem Bauernhof mit Pferden.