Bern – Letzte Woche wurde am sitem-insel, dem Schweizerischen Institut für Translationale Medizin und Unternehmertum, das «Dynamic Imaging Center» eröffnet. Hier können erstmals Röntgenaufnahmen von einem sich bewegenden Menschen gleichzeitig aus zwei verschiedenen Richtungen erstellt werden. Dies ermöglicht klinische Forschung, die europaweit einzigartig ist und einen Meilenstein in der Untersuchung von Erkrankungen des Bewegungsapparates darstellt.
Das neu gegründete Zentrum entspringt einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Inselspital und der Empa. Das Inselspital bringt dabei das notwendige medizinische Wissen ein, während die Empa ihre Kompetenzen im Bereich biomechanische Modellierung und Bildverarbeitung einbringt. Die Infrastruktur wurde gemeinsam finanziert, genau wie der Betrieb.
Die Körperhaltung ständig zu verändern, ist für den menschlichen Bewegungsapparat zentral. Und doch müssen Patientinnen und Patienten für Röntgen-, Computertomographie (CT)- und Magnetresonanztomographie (MRT)-Aufnahmen stillstehen oder -liegen. «Das ‘Bitte nicht bewegen!’ in der medizinischen Bildgebung erschwert aber die Diagnostik vieler Erkrankungen des Bewegungsapparats, zum Beispiel bei Bewegungsschmerzen in der Schulter, im Rücken oder bei Arthrose im Knie», erklärt Johannes Heverhagen vom Inselspital, Universitätsspital Bern. «Wenn wir die Aufnahmen machen könnten, während der Patient sich bewegt, könnten wir Erkrankungen besser erkennen, die bisher nur sehr schwer zu entdecken sind.»
Innovative Technik
Deshalb etablierte Heverhagen gemeinsam mit seinen Kollegen Klaus Siebenrock und Keivan Daneshvar vom Inselspital, Universitätsspital Bern in enger Zusammenarbeit mit Ameet Aiyangar von der Empa in Dübendorf, und dem sitem-insel das «Dynamic Imaging Center» (DIC), das am 10. November dank der idealen Voraussetzungen am sitem-insel als europaweit einzigartige Laboreinheit eröffnet werden konnte.
Probandinnen und Probanden bewegen sich entweder auf einem Laufband, das mit Kraftsensoren ausgestattet ist, oder auf Kraftmessplatten. Ihre Bewegungen werden von 16 Infrarot-Bewegungserfassungskameras sowie mit Röntgenstrahlen und einem Muskel-Elektrogramm (EMG) aufgezeichnet. Das Herzstück des neuen Labors ist ein einzigartiges, dynamisches Röntgen-basiertes Hochgeschwindigkeitsbildgebungssystem, das als «Dynamic Biplane Radiographic Imaging» (DBRI) bezeichnet wird. «Das DBRI kann bis zu 1000 Röntgenbilder pro Sekunde in zwei verschiedenen Ebenen aufnehmen, und das noch dazu mit sehr niedrigen Strahlungsdosen», erklärt Empa-Forscher Ameet Aiyangar. «So können wir die Bewegungen auf den Submillimeter genau messen und auch feinste Roll- und Gleitbewegungen im Gelenk feststellen.»
Die bewegten Röntgenbilder sollen dreidimensionale Bilder aus MRI- und CT-Geräten nicht ersetzen, sondern ergänzen. Durch alle Aufnahmen zusammen entsteht so ein umfassendes Bild der Situation im Knochen oder im Gelenk nicht nur in Ruhe, sondern auch in Bewegung. Vor allem bei Erkrankungen der Gelenke wie Arthrose und Gelenkinstabilität sind solche Aufnahmen äusserst wertvoll. Aber auch bei Rückenschmerzen, die zwei von drei Schweizerinnen und Schweizern mehrmals pro Jahr plagen, können sie bei der Diagnose helfen und bessere Behandlungen ermöglichen.
Defekte Gelenke
Ein Gelenk besteht aus zwei oder mehreren Knochenenden, die beweglich verbunden sind. Sie sind von Knorpel bedeckt, der zusammen mit der Gelenkschmiere im Gelenkspalt die Reibung zwischen den Knochenenden verringern. Bei der Arthrose werden die Gelenkknorpel durch Entzündungen, Unter- oder Überlastung geschädigt und gehen mit der Zeit kaputt. In der Folge können die betroffenen Gelenke nur noch unter Schmerzen bewegt werden. Arthrose kann ein Grund für Rückenschmerzen sein, denn zwischen den Wirbeln in der Wirbelsäule befinden sich ebenfalls Knorpel und Gelenke. Bei vielen Betroffenen ist die Ursache für diese Rückenschmerzen allerdings nicht geklärt. Deshalb werden die Schmerzen häufig nur symptomatisch behandelt. Im Spätstadium bleiben oft nur zwei Möglichkeiten: das Gelenk durch ein Implantat zu ersetzen oder es operativ zu versteifen. Eine genauere Diagnose der individuellen Ursachen für die Gelenkschmerzen könnte aber eine bessere Behandlung ermöglichen.
Erkrankungen des Bewegungsapparates gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der Schweiz. Sie verursachen hohe medizinische Kosten und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen stark. «Die Eröffnung des sitem-insel DIC als eines der ersten Labors dieser Art in einem Spitalumfeld in Europa zeigt auf, wie Innovation in der Bildgebung neue Forschungsansätze ermöglicht. Das DIC ist ein weiteres Beispiel, wie wir die Umsetzung von Ideen aus dem praktischen Klinikalltag ermöglichen, so dass sie am Markt erfolgreich eingesetzt werden können», so Simon Rothen, CEO sitem-insel.
Vielfältige Zukunftspläne
Die alltägliche Anwendung der neuen Technik im Spital ist nicht das einzige Ziel des DIC am sitem-insel. Dank der neuen Laboreinheit soll auch die Erforschung von degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates wie Arthrose gestärkt werden. Langfristig streben die Verantwortlichen eine Zusammenarbeit mit Herstellern von künstlichen Gelenken und anderen orthopädischen Implantaten an. Jene könnten neu entwickelte Implantate in der Forschungseinrichtung direkt im Einsatz während der Bewegung ausprobieren. Deshalb glaubt Daniel Buser, Verwaltungsratspräsident sitem-insel, an eine vielversprechende Zukunft der neuen Forschungseinrichtung: «Bisher gibt es nichts Gleichwertiges in Europa, und auch weltweit sind solche Laboreinheiten bisher nur selten im klinischen Einsatz. Wir sind hier ganz vorne mit dabei und bringen Spitzenforschung auf den Insel Campus Bern.» (sitem-insel/mc/pg)