Brüssel / London – Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht trotz der Blockade in den Brexit-Verhandlungen immer noch Chancen für einen geordneten Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Beide Seiten hätten sich aufeinander zubewegt, sagte Merkel am Mittwoch vor dem EU-Gipfel in Brüssel. Die EU erwägt als Zugeständnis an Grossbritannien eine längere Übergangsfrist nach dem Brexit im März 2019. Doch erwartet die EU nach den Worten von Ratschef Donald Tusk auch frische Ideen der britischen Regierungschefin Theresa May.
Die Verhandlungen der EU und Grossbritanniens über ein Austrittsabkommen waren am Sonntag in eine Sackgasse geraten. Knackpunkt ist immer noch die Frage, wie Schlagbäume und Kontrollen an der künftigen EU-Aussengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland vermieden werden können. May sollte beim Gipfel am Mittwochabend ihre Position darlegen. Die 27 bleibenden EU-Staaten wollen dann entscheiden, wie es weiter geht.
90% des Austritts schon geregelt
Merkel sagte vor der Abreise nach Brüssel im Bundestag, 90 Prozent des Austrittsvertrags seien schon geregelt. Doch bei der Irland-Frage liege die Tücke im Detail. Zudem müssten auch die künftigen Beziehungen zu Grossbritannien auf eine neue Grundlage gestellt werden. Sie wolle, dass Grossbritannien ein enger und vertrauensvoller Partner der EU bleibe. Merkel betonte, die Bundesregierung sei auf alle Möglichkeiten vorbereitet, auch auf einen Brexit ohne Abkommen.
Auch May optimistisch
Die britische Premierministerin Theresa May betont die Fortschritte auf dem Weg zu einem Brexit-Abkommen und hält einen Durchbruch in den nächsten Wochen für möglich. «Ein Abkommen ist machbar und jetzt ist die Zeit, es fertig zu bekommen», sagte May am Mittwoch vor dem EU-Gipfel in Brüssel.
Längere Frist möglich
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte den Europaministern der 27 bleibenden Staaten am Dienstag nach Darstellung von Diplomaten gesagt, dass die EU entgegen bisheriger Ansagen zu einer längeren Übergangsfrist bereit wäre. Mit Grossbritannien provisorisch vereinbart ist bisher eine Phase bis Ende 2020, in der sich praktisch nichts ändert. Diese könnte den Angaben zufolge ein Jahr länger ausfallen. Dann hätten beide Seiten mehr Zeit, die anvisierte Handels- und Sicherheitspartnerschaft nach dem Brexit zu klären. Das könnte wiederum helfen, auch die Irland-Frage zu lösen. Die EU beharrt auf einer Garantie für eine offene Grenze auf der irischen Insel, dem sogenannten Backstop. May hofft indes, die Grenzfrage im Rahmen eines langfristigen Handelspakts zu regeln. Voraussetzung für das Inkrafttreten der Übergangsfrist ist jedoch, dass überhaupt ein Austrittsvertrag zustande kommt. Darauf wies auch Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn im Deutschlandfunk hin und betonte: «Der Ball liegt bei Grossbritannien.» Bei den am Wochenende vorerst gestoppten Verhandlungen hatte der Vorschlag einer längeren Übergangsphase bereits auf dem Tisch gelegen und keinen Durchbruch gebracht, wie es aus Verhandlungskreisen hiess.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» zitierte auch aus einem internen Bericht der Bundesregierung, dass Barnier bei den britischen Unterhändlern «eine Verlängerung der Übergangsperiode ins Spiel gebracht» habe. Zur Einigung kam es dennoch nicht. In London dringen kategorische Brexit-Befürworter darauf, die Trennung von der EU so schnell wie möglich zu vollziehen. Der britische Handelsminister Liam Fox äusserte sich in der «Times» aber positiv über eine längere Übergangszeit.
Mehr Pragmatismus von EU gefordert
Der CDU-Aussenexperte Norbert Röttgen begrüsste das Angebot aus Brüssel und forderte von der EU insgesamt mehr Pragmatismus. «Ein ungeordneter Brexit wäre eine Katastrophe», sagte Röttgen in der ARD. Dies bekräftigten auch die europäischen Autohersteller, die bei einem Brexit ohne Vertrag ihr gesamtes Geschäftsmodell bedroht sähen. «Die Uhr tickt, aber es ist noch nicht zu spät», mahnte der Branchenverband Acea. Grünen-Europachef Reinhard Bütikofer sieht hingegen schwarz. «Die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten, harten Brexits steigt täglich», sagte Bütikofer der Deutschen Presse-Agentur. Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair und die früheren Vize-Regierungschefs Michael Heseltine und Nick Glegg riefen die EU in einem Zeitungsbeitrag auf, Grossbritannien Zeit für ein zweites Referendum zu geben. Die Befürworter eines Brexits hätten vor der Volksabstimmung im Jahr 2016 nicht deutlich gemacht, «welche Opfer ein Brexit unweigerlich mit sich bringt». (awp/mc/cs)