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Zürich – Europa und die EU müssen sich auf die Herausforderungen eines neuen Zeitalters vorbereiten. Wir brauchen Europa 4.0! Nachfolgend deshalb fünf Vorschläge, wie die EU die Grexit- und Brexit-Diskussion hinter sich lassen und gleichzeitig die digitale Transformation meistern kann, heisst es dazu in einem Strategiepapier der Unternehmensberatungen Roland Berger Strategy Consultants.
Europa braucht erstens eine neue Machtbalance – und damit ein anderes Verständnis von Zusammenarbeit. Vor dem Hintergrund des ökonomischen Aufstiegs der östlichen Beitrittsländer und des Auseinanderdriftens von Nord und Süd sind die Kräfteverhältnisse in der EU neu auszutarieren. Die Führungsrolle Deutschlands und Frankreichs bleibt bestehen, wird sich aber ändern müssen: geteilte Führung statt Paternalismus.
In die richtige Richtung weist der Vorschlag der Chefs der fünf EU-Institutionen, eine echte Wirtschafts- und Währungsunion mit einem Schatzamt an der Spitze zu schaffen. Der vorgesehene Fiskalausschuss könnte helfen, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, die Haushaltspolitik stärker zu verzahnen und notwendige Reformen in allen Ländern zu unterstützen, damit ein zweiter Fall Griechenland unmöglich wird.
Ähnlich wie in der digitalen Netzwerkökonomie werden auch in der europäischen Politik die Abhängigkeiten und Interdependenzen zwischen den Akteuren weiter zunehmen. Im Alleingang lassen sich die Probleme nicht lösen, eine vertrauensvolle Kollaboration «auf Augenhöhe» ist das Gebot der Stunde. Das Grundprinzip des neuen Europa muss lauten: weniger wechselseitige Belehrungen und mehr gemeinsame Initiativen, die wirklich nach vorne weisen, z.B. die Entwicklung und Umsetzung des Juncker-Plans in Richtung Zukunftsthemen und eine echte Reform der sozialen Sicherungssysteme.
Zweitens muss die EU auf die Herausforderungen der digitalen Welt schneller und flexibler reagieren. Grösstes Hindernis auf diesem Weg ist die überbordende Bürokratie. Heute stammen die meisten Gesetze, die in Deutschland gelten, aus Brüssel. Trotz mancher Deregulierungsbemühung ist das Ausmass der wettbewerbshemmenden EU-Bürokratie erschreckend. Wir brauchen das Prinzip «one in, one out»: Für jede neue Regel ist eine alte abzuschaffen!
«Rahmensetzung statt Mikromanagement» hat deshalb der Grundsatz für eine moderne Governance zu lauten. Wir brauchen mehr Dialog, mehr Transparenz, mehr Ganzheitlichkeit. Die digitale Wirtschaft weist den Weg: Schnittstellen zu reduzieren und neue Bedürfnisse der Kunden zu erkennen, zählt zu ihren Stärken. Wenn die EU-Institutionen sich ganz den Bürgern als Kunden verpflichtet fühlten, wäre für Europa viel gewonnen.
Die gute Nachricht ist: Die Digitalisierung wird die europäischen Institutionen zu mehr Transparenz zwingen. Erklären und Überzeugen stehen auf der Tagesordnung einer Netzgesellschaft, die nach mehr Beteiligung verlangt.
Europa muss drittens mit grossen und mutigen Zukunftsprojekten vorangehen, um eine Dynamik als Wirtschaftsraum zu entwickeln und integrierend zu wirken. Digitale Erfolgsunternehmen machen vor, wie man hochambitioniert und mit einem Schuss Wagemut neue Geschäftsfelder entwickelt.
Ganz oben auf der Agenda steht die Vollendung des Binnenmarktes. Warum gibt es in Europa mehr als 50 Mobilfunknetze, in den USA aber nur fünf? Eine grenzüberschreitende Konsolidierung würde Skaleneffekte schaffen – zum Wohle von Unternehmen wie Kunden.
Zudem muss Europa digitale Champions entwickeln. Aktuell weisen die 28 Mitgliedsstaaten kaum führende Unternehmen aus dieser Branche auf. Unter den zwanzig weltgrössten Internetunternehmen stellt Europa keinen Akteur. Das Wachstumspotenzial einer umfassenden Digitalisierung, das Roland Berger zusammen mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI) auf akkumuliert 1,25 Bio. EUR an zusätzlicher Bruttowertschöpfung bis 2025 beziffert hat, darf nicht ungenutzt bleiben.
Viertens braucht Europa mehr Innovationen, mehr Unternehmergeist und mehr Vernetzung. Es gilt, die Forschungs- und Entwicklungsetats sowohl der Wirtschaft als auch der öffentlichen Hand aufzustocken und Investitionen durch steuerliche Vorteile zu fördern.
Mehr Start-ups und mehr Wagniskapital sind ein wichtiger Schritt, um neue Geschäftsmodelle zu etablieren. Immerhin, das unternehmerische Scheitern scheint sich in Europa zu enttabuisieren und nicht nur das Silicon Valley, sondern auch Berlin oder Dublin ziehen immer mehr Gründer und Wagniskapital an.
Nicht zuletzt braucht Europa mehr Cluster, in denen sich Gründungs- und Grossunternehmen vernetzen und zusammenarbeiten können. In den USA sind sie wichtige Innovationstreiber. Deshalb benötigen wir dringend europäische «Digital Valleys»: virtuelle Plattformen für Unternehmen, Fachleute und Institute, die gemeinsam Projekte entwickeln und umsetzen. An guten Ideen mangelt es nicht. Aber es bedarf auch einer entsprechenden Geisteshaltung und eines wachstumsfördernden Umfelds, um guten Ideen zum Durchbruch zu verhelfen.
Dieser Denkmusterwechsel als fünfter Punkt zielt darauf ab, den Wandel von einer Spar- (Deutschland) oder Konsum- (Griechenland) zu einer Investitionskultur in den Köpfen zu verankern. Nicht nur die Südländer müssen ihre Hausaufgaben machen. So ist die deutsche Nettoinvestitionsquote seit 1999 um 75% (nominal) gesunken.
Statt der Diskussion «Austerität oder Deficit Spending» brauchen wir einen Stopp für unnötige Ausgaben in Bürokratie und Subventionen und grünes Licht für produktiv wirkende Ausgaben in Infrastruktur und Wissensgesellschaft. Es bedarf ideologiefreier und verlässlicher Rahmenbedingungen, die private Investitionen erleichtern. Eine Roland Berger-Analyse hat gezeigt: Investiert die EU zusätzlich 80 Mrd. EUR pro Jahr in zentrale Infrastrukturprojekte, kann sie mit einem Mehrwachstum von 1% rechnen.
Signal- und Anschubwirkung entfalten würden gezielte Investitionen in digitale Infrastruktur. Warum nicht dafür einen Grossteil jener 21 Mrd. EUR an öffentlichen Mitteln reservieren, die der Juncker-Plan als Katalysator für die private Finanzierung strategischer Investitionen in Höhe von 315 Mrd. EUR vorsieht?
Kurzum: Es gilt, von notleidenden EU-Ländern nicht nur Haushaltsdisziplin einzufordern, sondern in einem gemeinsamen Kraftakt aller Länder den Weg zu echten Strukturreformen zu ebnen. Europa steht vor grossen Herausforderungen – dafür muss es anders denken, sich besser organisieren und gemeinsam handeln. Es muss zusammenrücken statt auseinanderdriften, seine bestehenden Stärken einsetzen und mutig die Chancen der Digitalisierung nutzen. Dann wird Europa 4.0 ein Erfolgsmodell. (Roland Berger/mc/ps)
Über Stefan Schaible
Stefan Schaible ist Deputy CEO von Roland Berger Strategy Consultants sowie Chef für Zentraleuropa, inklusive Deutschland, Österreich, Schweiz und Osteuropa.
Über Roland Berger
Roland Berger Strategy Consultants, 1967 gegründet, ist die einzige der weltweit führenden Unternehmensberatungen mit deutscher Herkunft und europäischen Wurzeln. Mit rund 2400 Mitarbeitern in 36 Ländern ist das Unternehmen in allen global wichtigen Märkten erfolgreich aktiv. Die 50 Büros von Roland Berger befinden sich an zentralen Wirtschaftsstandorten weltweit. Das Beratungsunternehmen ist eine unabhängige Partnerschaft im ausschliesslichen Eigentum von rund 220 Partnern.