Evolution von guten Ideen

ETH

Die Weltkarte zeigt auf, dass vor allem Mitteleuropa, Grossbritannien und die USA treibende Kräfte bei wissenschaftlichen Innovationen sind. China, Indien und Lateinamerika erscheinen auf dieser Karte als Nutzniesser, die kaum kreative neue Ideen aufbringen. (Grafik: aus Mazloumian et al., 2013)

Zürich – Die Wissenschaftswelt verhält sich wie ein Ökosystem. Und die Schweizer Forschenden kommen darin sehr gut zurecht, wie eine Analyse von Soziologieprofessor Dirk Helbing zeigt. Aber sie könnte noch mehr in Pionierforschung investieren, um an die Spitze der Nahrungskette zu kommen.

In einem Ökosystem gibt es an der Basis der Nahrungskette die Produzenten, welche die Konsumenten, etwa grasfressende Huftiere, mit Nährstoffen versorgen, dann die Fleischfresser, die sich von den Vegetariern ernähren. In diesem fein austarierten Netz gibt es quasi ein Geben und Nehmen, zwischen allen Teilen des Systems fliessen Stoffe umher. Ganz ähnlich funktioniert auch das «Ökosystem Wissenschaft», wie eine neue Studie von Dirk Helbing, Professor für Soziologie der ETH Zürich, hervorhebt. Mitstreiter der Studie sind Amin Mazloumian vom gleichen Institut und Katy Börner von der Indiana University, bekannt vom «Atlas of Science».

Originalität und Kreativität zählen
Im wissenschaftlichen Ökosystem gebe es Vordenker und Nachdenker, erklärt Helbing. Forschende, die neue Ideen generieren, sind die Produzenten, und Forschende, die auf diesen Ideen aufbauen, die Konsumenten. Als Idee versteht Helbing ein Forschungsresultat, das vorher noch nicht erzielt wurde und der Originalität und Kreativität seines Urhebers zuzuschreiben ist.

Solche Ideen – in wissenschaftlichen Publikationen festgehalten – sind der Stoff, der zu anderen Forschern fliesst, von ihnen weiterverwendet und dabei zitiert werden (muss). Helbing und seine Ko-Autoren haben anhand von über 13 Millionen Zitationen zwischen 8 Millionen Papers untersucht, an welchen Orten weltweit originelle Ideen produziert und wo sie konsumiert werden.

Neuer Index als Fitness-Mass
Dazu haben die ETH-Forschenden einen neuen Index geschaffen, der ein Mass für die Fitness des Forschungsstandortes ist. Schlüsselgrösse in der Berechnung des Index‘ ist, wie überproportional die Zitationsrate ist. Denn jedes Paper, das Helbings Mitarbeiter untersuchten, hat eine bestimmte durchschnittliche Zitationsrate. Liegt nun die Zitationsrate eines Papers weit über dem Durchschnitt und damit über den Erwartungen, so wird dies als ein Mass für die Kreativität des Urhebers gewertet. Erfolgreiche Ideen, sagt Dirk Helbing, werden häufiger «konsumiert» und deshalb auch öfters zitiert als Ideen, die nicht als kreativ angesehen werden. Mithilfe dieses Index‘ lassen sich erfolgreiche Ideen identifizieren und den «Stofffluss» bis zurück zur Quelle zurückverfolgen.

«Nach wie vor kommen viele innovative Ideen aus Nordamerika und Europa», sagt Helbing. Gemäss seinem Fitness-Index liegen die US-amerikanischen Institutionen in den Jahren 2007 bis 2009 an der Weltspitze. Keine andere Nation ist auf die wissenschaftliche Kreativität bezogen so fit wie die Amerikaner. An zweiter Stelle liegt Grossbritannien. Die Schweiz liegt nach Deutschland, Kanada und Holland auf Platz 6.

Zitationsrate top, Innovation solala
Die Schweiz ist dagegen weltmeisterlich bezogen auf die Zitationsraten. Die Papers von hiesigen Wissenschaftlern werden am häufigsten zitiert. An zweiter Stelle liegt mit Dänemark ein weiterer kleiner Staat, dicht gefolgt von den Niederlanden. Die beiden Wissenschafts-Schwergewichte USA und Grossbritannien kommen erst auf Rang 5 und Rang 6. Daraus schliesst Helbing, dass «die Forscher kleinerer Länder im Durchschnitt die beste Qualität bei Papers liefern und deshalb öfters als ihre Konkurrenten aus den grossen Ländern zitiert werden.»

Die Fitness einer Nation – gemessen an der Originalität der Arbeit – hänge allerdings weniger von der Zitationsrate ab als davon, wo eine Idee aufgekommen sei, räumt der ETH-Professor ein. Viele Zitate pro Paper bekomme man, wenn man Mainstream-Forschung betreibe, bemängelt Helbing. Die Schweiz sei führend bei den etablierten Wissensgebieten, aber noch nicht bei den Pionierleistungen. «Damit das Land vorne mitmischen kann, muss es in der Forschung mutiger sein.»

Pionierleistungen fördern
Pioniere bringen neue Ideen auf, die per Definition noch keiner vor ihnen hatte. Damit die Idee den Durchbruch schafft, muss sich erst eine wissenschaftliche Community bilden, welche die Idee stützt und weiterentwickelt. Das braucht viel Zeit. Aber einige Pioniere hätten damit später grösseren Erfolg als mit Mainstream-Forschungsthemen, sagt Helbing. «Das ist eine andere Art von Forschung.» Wolle die Schweiz hier besser werden, müsse sie unkonventionelle Forschung ermutigen und gewagte Ideen stärker fördern.

Nebst den Quellen des Wissens identifiziert Helbings neue Studie auch die grössten «Wissensverbraucher». China etwa hat gegenüber den etablierten Forschungsmächten stark aufgeholt und seinen wissenschaftlichen Ausstoss massiv erhöht. Innerhalb von zehn Jahren, zwischen 2000 und 2009, steigerte China die absolute Zahl von Publikation um das Dreifache. Bei den originären Ideen hinken die Ostasiaten aber den westlichen Nationen hinterher. Gute Ideen werden demnach in China öfter kopiert als generiert. Das Land ist denn auch bei der «wissenschaftlichen Fitness» nicht unter den besten Zehn zu finden.

Starke Wirtschaft stützt Innovationskraft
«Senken», in die das Wissen abfliesst, sind aber auch in Süd-, Südost und Osteuropa auszumachen, genauso wie im Mittleren Westen sowie den Südstaaten der USA. Das Bild, das diese Senken bieten, deckt sich mit der wirtschaftlichen Kraft dieser Regionen. Oder anders gesagt: Überall dort, wo wissenschaftliche Ideen und Innovationen entstehen, prosperiert die Wirtschaft und umgekehrt: Eine starke Wirtschaft finanziert die Forschung, die mit ihrer Innovationskraft wiederum die Wirtschaft stärkt.

Untergeordnete Rollen auf Helbings Wissenschafts-Ökosystemkarte spielen deshalb auch die meisten Länder des Südens. Insbesondere Afrika und Lateinamerika sind mit Ausnahme Brasiliens die buchstäblichen weissen Flecke auf der Landkarte.

Helbing glaubt, dass ihr neuer Fitness-Index ein besseres Bild der wissenschaftlichen Leistung wiedergibt als die in den meisten Hochschulrankings verwendeten Zitationsanalysen. Wichtig sei aber vor allem zu sehen, dass die Wissenschaft ein System sei, in dem alles und alle voneinander abhängen. «Es ist entscheidend, dass die Informationen fliessen», sagt der Soziologe. Nicht einzelne Akteure sind massgebend sondern die Interaktionen. «Der neue Index trägt diesem Umstand Rechnung.» Er sei auch besser reproduzierbar als die heute den Hochschulrankings oft zugrunde gelegten Masszahlen. Die Studie sei überdies ein wichtiger Schritt, um den kulturellen Evolutionsprozess von Ideen quantitativ zu erfassen und nachzubilden. (ETH/mc/pg)

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