Basel – Während der Coronapandemie greifen Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien um sich. In ihrem Buch untersucht die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Nicola Gess, welche Rolle Halbwahrheiten im öffentlichen Diskurs spielen und wie man am besten gegen sie vorgeht. Ein Interview der Universität Basel.
Frau Gess, in ihrem Buch befassen Sie sich mit Halbwahrheiten. Was zeichnet eine Halbwahrheit denn aus?
Halbwahrheiten schlagen die Brücke vom Raum der Tatsachen in den Raum der Spekulation und der Fiktion. Sie sind Falschaussagen, an denen immer auch irgendetwas Wahres dran ist; das macht sie so perfide. Halbwahrheiten biegen sich die Wirklichkeit zurecht, und als Massstab gilt dabei nicht die Frage nach wahr oder falsch, sondern was bei den Leuten gut ankommt.
Wie unterscheidet sich denn die Halbwahrheit von der Lüge?
Die Lüge bleibt negativ an die Wahrheit gebunden, indem sie sich deren Autorität widersetzt. Bei Halbwahrheiten spielt die Frage nach der Wahrheit kaum noch eine Rolle, die Unterscheidung wird letztlich eingeebnet. Viel bedeutsamer ist, ob etwas glaubwürdig oder passförmig ist. Halbwahrheiten sind auch viel schwerer zu bekämpfen als Lügen.
Was macht ihre Bekämpfung denn so schwierig?
Weil an ihnen immer auch etwas Wahres dran ist, können sie sich einerseits gut gegen ihre Enttarnung schützen. Diese funktioniert typischerweise nach dem Ja-aber-Muster: Ja, das ist wahr, aber das ist nicht wahr. Das hat dann eine gewisse Komplexität. Viele Leute hören da nur noch das Ja. Das reicht ihnen vor allem dann, wenn sie an eine Halbwahrheit glauben möchten.
Welche Rolle spielen denn Halbwahrheiten in der Coronakrise?
Sie liefern eine Art Scheinevidenz und plausibilisieren damit zum Beispiel Verschwörungstheorien. Der deutsche Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen etwa behauptet, dass Bill Gates die WHO gekauft hätte, um sie nach seinen Privatinteressen zu steuern. Was stimmt ist, dass die Gates Stiftung die WHO zu etwa 10 Prozent mitfinanziert. Aber natürlich ist es falsch, daraus zu schliessen, dass Gates die WHO gekapert habe und diese nun ganz nach seiner Pfeife tanze. Hier kommt dann wieder das Ja-aber-Schema zum Zug. Wichtig ist auch: Verschwörungstheorien funktionieren nach dem Modell des motivierten Denkens: Basierend auf einer bestimmten Überzeugung werden nur die Halbwahrheiten aufgegriffen, die dazu passen.
In der Coronakrise scheinen sich vermehrt Verschwörungstheorien auszubreiten. Stimmt dieser Eindruck?
Verschwörungstheorien hatten bereits vor der Pandemie verstärkt Konjunktur. In der Forschung wird das unter anderem auf die Fragmentierung und Polarisierung der Öffentlichkeit wie auch die stärkere Sichtbarkeit durch die Sozialen Medien zurückgeführt. Aber es stimmt, Verschwörungstheorien haben während der Coronakrise nochmals an Attraktivität gewonnen.
Wie erklären Sie sich das?
Die Pandemie ist für viele Menschen eine sehr belastende und auch schwer verständliche Situation. Es gibt sehr viele Statistiken, widersprüchliche Aussagen von Expertinnen und Experten sowie unterschiedliche Massnahmen. Das macht eine sehr komplexe Beurteilung der Krise notwendig, was viele Menschen überfordert. Verschwörungstheorien schaffen in Zeiten der Verunsicherung Abhilfe. Sie liefern einfache Erklärungen, klare Schuldige und spielen die Gefährlichkeit des Virus herunter. Vor allem geben sie den Menschen aber das Gefühl von Handlungsmacht zurück. Indem man gegen einen imaginären Feind ankämpfen kann, fühlt man sich der Situation wieder mächtig.
Wie geht man denn am besten gegen Halbwahrheiten vor?
Das tut man am besten dreistufig: Erstmal müssen sie bemerkt und ihre Rolle in Kontext einer postfaktischen Rhetorik verstanden werden. Als Zweites helfen natürlich Faktenchecks – das mache ich auch in meinem Buch. Aber viele Halbwahrheiten sind gegen Faktenchecks immun. Deshalb schlage ich in meinem Buch vor, den Faktencheck um einen Fiktionscheck zu ergänzen. Denn Halbwahrheiten funktionieren letztlich wie kleine Geschichten. Nur wenn man diese Dimension versteht, kann man sie wirkungsvoll entzaubern. (Universität Basel/mc/ps)
Prof. Dr. Nicola Gess
Nicola Gess ist Professorin für Neuere deutsche und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. In ihrem aktuell erschienenen Buch Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit befasst sie sich intensiv mit der Rolle von Halbwahrheiten im öffentlichen Diskurs.