Flussrenaturierung ohne Verzicht auf Flussbettnutzung

Flussrenaturierung ohne Verzicht auf Flussbettnutzung

Beispiel gelungener Flussbett-Renaturierung: Rhone bei Pfyn.

Bern – Schweizer Forscher berichten in einer jüngst veröffentlichten Studie, dass sich eine gut durchdachte Flussbettrevitalisierung, durchgeführt an der Rhone bei Pfyn (Wallis), in bemerkenswert positiver Weise auf Lebensräume und Bestände von zwei in der Schweiz seltenen Watvogelarten ausgewirkt hat. Dabei wird gezeigt, dass die Renaturierungsmassnahmen nicht nur mit menschlichen Nutzungsansprüchen zu vereinbaren sind, sondern dass Sedimentabbau und Biodiversitätsziele sogar zum beiderseitigen Nutzen in Einklang gebracht werden können.

Die Aussterberate von Tier- und Pflanzenarten, die im Schwemmland grosser Flüsse beheimatet sind, ist fünfmal höher als diejenige in irgendeinem anderen Ökosystem. Dieses Phänomen ist weltweit zu beobachten und hängt mit der Tatsache zusammen, dass grosse Flüsse in ihrem Unterlauf das sie umgebende Tiefland durch natürlicherweise periodisch wiederkehrende Hochwasser stets weiter formen und umgestalten. Dies ergibt eine grosse Fülle an unterschiedlichen Lebensräumen, welche zu verschiedenartigsten ökologischen Nischen führen: Sie reichen vom eigentlichen Flussbett über verzweigte Seitenarme, periodische Stehgewässer und Kiesbänke bis zum Weiden- und Pappeldickicht sowie dem Auwald am Ufer eines solchen Fliessgewässers. Genau diese Schwemmlandebenen werden aber auch von uns Menschen stark beansprucht, sei es für ökonomische Aktivitäten oder aber im Zuge des Siedlungsbaus.

Verlust der Fliessdynamik
Um Gefahren durch Überschwemmungen und Ufererosion zu bannen, wurden Fliessgewässer im Verlauf der Jahrhunderte systematisch korrigiert und kanalisiert, was ganz besonders für die hochindustrialisierten Ländern des Westens gilt. Eine derartige Begradigung eines Flusses hatte aber unweigerlich eine Verarmung seiner einst vielfältigen Ökosysteme zur Folge. Der Verlust der Fliessdynamik liess das bunte Mosaik der unterschiedlichen Lebensräume, die darin lebenden Pflanzen und die Tiere verschwinden. Für die Schweiz wird geschätzt, dass 95% unserer Flüsse und Bäche verändert und begradigt wurden, was einen immensen Verlust für die Biodiversität bedeutet. Seit kurzem allerdings wird dieser Umgang mit unseren Fliessgewässern revidiert und neuartige Ansätze gelangen verschiedenenorts zur Anwendung:  Das natürliche Bett von Flüssen wird wiederhergestellt, indem man den Fliessgewässern mehr Raum zugesteht, um dadurch sowohl Sicherheitsaspekten wie auch Biodiversitätsanliegen zu genügen. Mehrere solcher Projekte sind in den letzten Jahren in der Schweiz initiiert worden.

Grösstes Flussrenaturierungsprojekt der Schweiz

Im Gebiet von Pfyn, gelegen im Mittelwallis, ist die Rhone über lange Zeit hinweg von grösseren Korrekturmassnahmen verschont geblieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erste Versuche unternommen, den Fluss an dieser Stelle einzudämmen. Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war dann auch dieses lokale Ökosystem in ein derart enges Korsett gezwängt worden, dass der Rückgang und schliesslich das Verschwinden von zahlreichen Arten, die auf eine natürliche Flussdynamik mit periodischen Hochwassern angewiesen sind, unvermeidlich war. Erst in den 90er Jahren, als die Autobahn durchs Rhonetal gebaut wurde, ist dieses ebenso kostspielige wie für die Natur zerstörerische Konzept endlich überdacht worden.

Entwicklung der Rhonelandschaft im Raum Pfyn untersucht

Professor Raphaël Arlettaz und seine Arbeitsgruppe an der Universität Bern und Vogelwarte Sempach erhielten von den Behörden des nationalen Strassenbaus den Auftrag, die Entwicklung der Rhonelandschaft im Raum Pfyn und den lokalen Zustand der Biodiversität quantitativ zu ermitteln. Mithilfe von alten Luftaufnahmen konnten die Wissenschaftler aufzeigen, dass die Vielfalt der Lebensräume, insbesondere die Pionierhabitate wie Kiesbänke, Altarme, Weiden- und Sanddorngebüsche, am Ende der 70er Jahre einen absoluten Tiefstand erreicht hatte, dies als Folge der konsequenten Verbauung des Flusses. Dieser Zustand einer katastrophalen ökologischen Verarmung hielt bis in die 90er Jahre an. Ab 1994, als erste Gegenmassnahmen wie Flussbetterweiterungen ihre Wirkung zeigten, erfolgte dann eine kontinuierliche Wiederkehr der ursprünglichen Pionierhabitate. «Das Landschaftsmosaik ist inzwischen wieder so vielfältig wie zuletzt vor über 30 Jahren!» bemerkt ein begeisterter Pierre-Alain Oggier, der zuständige Ingenieur im Nationalstrassenbau, unter dessen Leitung das Schutzprojekt in den Pfynauen Gestalt angenommen hat und der auch als Co-Autor der Studie fungiert.

Bestandserhebung zweier seltener Watvogelarten
Als nächster Schritt wurde von den Forschern die demographische Entwicklung von zwei in der Schweiz selten gewordenen Vogelarten analysiert: Der Flussuferläufer und der Flussregenpfeifer sind beide an Habitate (Kiesbänke und Gebüschdickichte) gebunden, wie sie für ein frühes Stadium pflanzlicher Sukzession an Flussläufen typisch sind. Zu diesem Zweck wurden die von Ornithologen seit den 70er Jahren erfassten Bestandsdaten der beiden Vogelarten unter Zuhilfenahme von neuartigen Techniken (der sogenannten Bayesschen Statistik) neuerlich analysiert. Ausgehend von den Beobachtungsdaten, die während den systematischen Erfassungen über die Jahre zusammengetragen worden sind, konnte für beide Arten die Wahrscheinlichkeit eines Nachweises errechnet werden. Mit dieser Kenngrösse war es dann möglich, die Anzahl der von den beiden Vogelarten jährlich besetzten Reviere mit grösserer Präzision zu bestimmen. Die Resultate waren eindeutig.

Flussuferläufer: Zunehmnde Bestandespopulation
«Der Flussuferläuferbestand hat im Pfyngebiet seit der Umsetzung der ersten Revitalisierungsmassnahmen im Jahre 1994, d.h. in weniger als 15 Jahren um 83% zugenommen» stellt Raphaël Arlettaz zufrieden fest. «Auch die Population des Flussregenpfeifers nimmt zu. Die Region um Pfyn beherbergt heute einen Viertel aller Brutpaare des Flussuferläufers in der Schweiz sowie 10% der Flussregenpfeifer unseres Landes. Das ist auch deshalb bemerkenswert, da der Flussuferläufer überall sonst im Rückgang begriffen ist». Diese Entwicklungen sind umso erfreulicher als sie erzielt werden konnten ohne dass die intensive Entnahme der Rhonesedimente im Pfyngebiet seit Beginn der Renaturierungsmassnahmen je eingeschränkt werden musste. «Dies beweist uns, dass sich erfolgreicher Naturschutz und ökonomische Interessen nicht zwingend ausschliessen müssen; Voraussetzung ist eine sorgfältige Planung der Sedimententnahme unter Berücksichtigung und in Absprache mit den Interessen des Biodiversitätsschutzes» wie Pierre-Alain Oggier betont. (Universität Bern/mc/ps)

Quelle
Raphaël Arlettaz, Alain Lugon, Antoine Sierro, Philippe Werner, Marc Kéry & Pierre-Alain Oggier: River bed restoration boosts habitat mosaics and the demography of two rare non-aquatic vertebrates. Biological Conservation 137: 567-576. Erschienen im Juni 2011.

Conservation Biology Universität Bern

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