Frauenstimmrecht: Höhere Bildung, weniger Hochzeiten

Die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz führte zu einer Emanzipation der Frauen. (Bild: Adobe Stock / Unibas)

Basel – Die Einführung des allgemeinen Stimm- und Wahlrechts für Frauen in der Schweiz hat massgeblich zu deren Emanzipation beigetragen. Die Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit, die Bildung und das Familienmodell haben Forschende der Universität Basel nun rückblickend statistisch ausgewertet und quantifiziert.

Die anonyme Petition von Zürcher Frauen, die 1868 im Rahmen der Verfassungsreform das Frauenstimmrecht forderte, war chancenlos. Ebenso viele weitere Vorstösse mit diesem Anliegen. Erst 1959 führte der Kanton Waadt als erster das Frauenstimmrecht auf kommunaler und kantonaler Ebene ein. Am längsten auf volles politisches Mitspracherecht warten mussten die Appenzellerinnen: Sie hatten das Wahlrecht zwar ab 1971 auf eidgenössischer Ebene, kantonal jedoch in Ausserrhoden erst 1989 und in Innerrhoden ab 1990. Schweizerinnen mit demselben Jahrgang erhielten also je nach Wohnkanton in ganz unterschiedlichem Alter das Stimmrecht.

Diesen Umstand nutzten Prof. Dr. Alois Stutzer von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel und Research Fellow Dr. Michaela Slotwinski für statistische Analysen. Sie fragten, ob eine frühere Berührung mit dem Frauenstimmrecht im Durchschnitt dazu führte, dass die Frauen selbstbestimmtere Lebensentwürfe hatten, seien sie selbst gewählt oder durch ihre Eltern geprägt. Ihre Erkenntnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift «The Economic Journal». 

Das Frauenstimmrecht erhöht die Selbstwirksamkeit
Das Wahlrecht für Frauen löste eine Emanzipation aus. Dies lässt sich heute rückblickend feststellen, da die Lebensentscheide der Frauen bekannt sind, die in unterschiedlichen Lebensphasen das Wahlrecht erhalten haben. «Umfangreiche Forschung in der Psychologie und Politologie zeigt, dass Rechte zur politischen Teilnahme das Gefühl stärken, die eigenen Umstände zu kontrollieren. Dies wiederum ermutigt zu einem wirtschaftlich selbstbestimmten Leben und reduziert damit die Abhängigkeit von einem Ehepartner», sagt der Professor für Politische Ökonomie.

So zeigt die Auswertung der Daten etwa, dass Frauen, die vor dem Alter von 17 Jahren ein Umfeld mit Frauenstimmrecht erfahren haben, später mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit einer bezahlten Arbeit ausserhalb des eigenen Haushalts nachgingen. Der Unterschied betrug 10 Prozentpunkte im Vergleich mit Frauen, welche erst mit 36 Jahren oder noch später die Möglichkeit zu politischer Mitbestimmung hatten.

Die höhere Erwerbswahrscheinlichkeit ist zu einem Teil dadurch bedingt, dass Frauen in einer Umgebung mit Frauenstimmrecht eher einen höheren Bildungsabschluss erlangten, das heisst mehr als die obligatorische Schule und vielleicht eine Hauswirtschaftsschule absolvierten. Bei Frauen, die vor dem Alter von 17 Jahren das Frauenstimm- und Wahlrecht erfahren haben, ist die entsprechende Wahrscheinlichkeit um zirka 15 Prozentpunkte höher als bei Frauen, die diese Erfahrung erst mit 36 oder später machten.

Diese Analyse basiert auf den Daten der eidgenössischen Volkszählungen in den Jahren 1980, 1990 und 2000 und der Strukturerhebung 2010. Sie zeigt, dass die Einführung des Frauenstimmrechts eine wichtige Triebkraft ist für die wirtschaftliche Entwicklung und die Erwerbstätigkeit der Frauen in der Schweiz.

Umdenken findet auch bei den Männern statt
Die bessere Bildung und die höhere Erwerbstätigkeit zeigt sich auch in selbstbestimmteren Entscheidungen bei der Ehe. Frauen, die früh das Wahlrecht erfahren haben, gingen im Durchschnitt später und mit einer um zirka 3 Prozentpunkte geringeren Wahrscheinlichkeit eine Ehe ein als solche, die bei der Einführung schon älter waren. Ebenso lösen Frauen, die das Wahlrecht früh erfahren haben, ihre Ehe mit zirka 3 Prozentpunkte höherer Wahrscheinlichkeit auf.

Die Ermächtigung der Frauen wurde dabei vermutlich verstärkt durch ein Umdenken der Väter, Brüder und Ehemänner. «So sehen wir in unserer Analyse, dass die Männer mit der Erfahrung des Frauenstimmrechts in ihrem Kanton auch eine offenere Einstellung gegenüber dem Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene entwickelten», sagt Alois Stutzer.

Veränderungen mehr im Privaten als in der Politik
Hingegen sind die politischen Veränderungen geringer als vermutet: «Erstaunlicherweise finden wir keine messbaren Auswirkungen der Einführung des Stimm- und Wahlrechts auf kantonaler Ebene auf die kantonale Finanzpolitik», so der Wirtschaftswissenschaftler weiter. Es seien weder bei den Gesamtausgaben noch bei familienpolitischen Themen wie den Kinderzulagen systematische Veränderung zu beobachten.

Die Forschenden untersuchten zudem die Sitzanteile der Sozialdemokratischen Partei (SP) der Schweiz in den Kantonen, das heisst jener Partei, die sich am frühesten für das Frauenstimmrecht engagiert hatte. Das Fazit: Gemäss der Analysen profitierte die SP nicht von der Einführung des Frauenstimmrechts. «Die Parteien hatten wohl zum Beispiel Familienanliegen schon vorher im Blick und die Männer stimmten und wählten entsprechend», so Stutzer. Der Umbruch durch die politischen Rechte der Frauen in der Schweiz scheint also seine Spuren stärker bei den privaten Lebensentscheiden als in der Politik hinterlassen zu haben.

Nachwirkungen bis heute
Die unterschiedlichen Prägungen der Schweizerinnen wirken bis heute nach und zeigen sich beispielsweise in der Wahrnehmung der Geschlechternormen. In der 2013 und 2018 durchgeführten «Erhebung zu Familien und Generationen» gaben Frauen Auskunft über ihre Rollenbilder. Demnach vertreten Frauen, die das Stimm- und Wahlrecht nach dem 25. Geburtstag erhalten haben, traditionellere Normen als jene, die in einem Umfeld aufwuchsen, wo die Frauen bereits politisches Mitspracherecht hatten. So unterstützen Erstere eher die Aussage, dass ein Universitätsabschluss oder eine Arbeitsstelle für Männer wichtiger sei als für Frauen. Sie stimmen auch eher der Aussage zu, dass Frauen primär für den Haushalt und die Kindererziehung verantwortlich sein sollten.

«Das verdeutlicht, wie die Erfahrungen in jungen Jahren die Normen von Menschen langfristig prägen», resümiert Alois Stutzer und ergänzt: «Wenn dann aber andere Regeln gelten, wie eben Stimm- und Wahlrechte für Frauen, dann hat dies durchaus auch die Kraft, diese Normen zu verändern.»

Ein sauberer Vergleich dank Technik
Die Forschenden beobachteten die Kohorten der Frauen über mehrere Volkszählungen hinweg. Bei der Berechnung der Unterschiede, zum Beispiel bei der Erwerbstätigkeit, zwischen Frauen, die früh beziehungsweise spät das Stimm- und Wahlrecht erfahren haben, berücksichtigen sie neben dem Jahrgang eine lange Reihe weiterer möglicher Faktoren, die die Erwerbstätigkeit beeinflussen können. So werden zum Beispiel der Einfluss des Alters, des Bildungsniveaus oder der Bedingungen auf dem lokalen Arbeitsmarkt statistisch herausgerechnet. Die Auswertung identifiziert den spezifischen Effekt des Frauenstimmrechts damit unter der Annahme paralleler Trends bei den Kohorten über die Kantone hinweg. Das heisst es wird ausgeschlossen, dass es kantons- und kohortenspezifische Effekte gibt, die mit der Einführung des Frauenstimmrechts korrelieren, jedoch nicht kausal mit ihr zusammenhängen. (Universität Basel/mc/ps)

Originalpublikation
Michaela Slotwinski und Alois Stutzer
Women leaving the playpen: The emancipating role of female suffrage
The Economic Journal (2022), doi: 10.1093/ej/ueac077
Universität Basel

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