Führung psychisch kranker Mitarbeiter – Experten fordern Umdenken

Sorgen

(Foto: Rafael Ben-Ari - Fotolia.com)

Luzern – Psychische Probleme von Mitarbeitenden belasten oft auch die Führungskräfte und Arbeitskollegen. Erstmals schildern Vorgesetzte in einer repräsentativen Studie für die deutschsprachige Schweiz, wie sie diese Situationen wahrnehmen, wie sie damit umgehen und was sie daraus lernen. Anschaulich erzählen sie die Problemverläufe mit Begriffen aus der Filmwelt. Die Studie der Psychiatrie Baselland und der Hochschule Luzern liefert viele Empfehlungen.

Probleme mit psychisch kranken Angestellten verlaufen oft negativ und enden in Arbeitsunfähigkeit und Jobverlust. In der ersten für die deutschsprachige Schweiz repräsentativen Studie der Psychiatrie Baselland und der Hochschule Luzern mit dem Titel «Der tägliche Wahnsinn» beschreiben Führungskräfte die Probleme von psychisch belasteten Mitarbeitenden und wie sich diese Schwierigkeiten auf die Arbeit und alle Beteiligten auswirken. Die Vorgesetzten beantworteten einen Teil der Fragen, indem sie sich die Geschichte betroffener Mitarbeitender als eine «filmreife Story» vorstellten und mit Begriffen aus der Filmwelt beschrieben. Diese Methode sollte es ihnen erleichtern, ihre Erlebnisse mit diesen ‹unsichtbaren› Krankheiten anschaulich und für andere nachvollziehbar zu machen.

Drama häufigste Filmkategorie – Bedeutungstragende Filmtitel
Über 80 Prozent der Führungskräfte bewerten die Geschichte ihres psychisch auffälligen Mitarbeiters als Drama. Mit über fünf Prozent relativ häufig werden auch Komödien, Horror-, Action-, Kriminal- und Fantasyfilme genannt. Als Fantasyfilme beschreiben die Befragten etwa Situationen von Beschäftigten mit einer gestörten Realitätsauffassung. In Horrorfilmen spielen vorab Mitarbeitende mit aggressivem Verhalten eine Rolle, in Ehe- und Familiendramen Mitarbeitende mit ängstlich-depressiven Auffälligkeiten.

Aufschlussreich sind die oft bedeutungstragenden Filmtitel, welche die Vorgesetzten ihrer Geschichte geben. Sie beschreiben bestimmte Charakterzüge oder Verhaltensmuster der betroffenen Mitarbeitenden und geben Hinweise auf die Art der wahrgenommenen Kernproblematik. Filmtitel sind etwa «Der missverstandene Perfektionist», «Auf der Überholspur von sich selber», «Zu früh zu Hause», «Harry auf der Suche nach sich selbst», «Lächeln bis die Möbel fliegen», «Ich bin immer das Opfer» oder «Der tägliche Wahnsinn».

Normalerweise wird das Arbeitsverhältnis aufgelöst
Rund 40 Prozent der Vorgesetzten geben an, dass die Zusammenarbeit mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden für sie selbst psychisch extrem oder sehr belastend ist und viel Zeit kostet. In ebenfalls 40 Prozent der Fälle ist das Team extrem oder sehr belastet und die Produktivität der Abteilung sinkt. Hauptleidtragende sind jedoch die betroffenen Mitarbeitenden selbst: In 80 Prozent der Fälle werden sie von den Führungskräften als extrem oder sehr belastet wahrgenommen.

Die Konsequenzen sind schwerwiegend: In einem von 40 Fällen endet die Geschichte mit einem Suizid des Mitarbeitenden und in 80 Prozent, indem das Arbeitsverhältnis aufgelöst wird; obwohl die Hälfte der Befragten gebeten worden waren, sich an eine «positiv» verlaufene Geschichte zu erinnern. Das wäre weniger der Fall, wenn die Schwierigkeiten früher und offen angesprochen würden. 60 Prozent der Vorgesetzten geben an, innerhalb zweier Monate nach «Problembeginn» erstmals interveniert zu haben. Aber was sie als Problembeginn werten, ist meist schon eine fortgeschrittene Problematik, oft ein vorläufiges Ende: Eskalation von Arbeitskonflikten, akute Suchtprobleme, Leistungsabfall, Drohungen, Krankschreibungen, Weinkrämpfe.

Psychiater sind eine Hilfe – wenn sie denn einbezogen sind
Fast nie treten in den Darstellungen Akteure wie die IV-Stellen oder Krankentaggeldversicherungen auf, obwohl es häufig zu Krankschreibungen kommt. Auch die Personalverantwortlichen der Firmen spielen meist nur eine «Nebenrolle». Die behandelnden Psychiater der Mitarbeitenden werden als einzige externe Fachpersonen oft als wichtige Hilfe erlebt – sofern sie involviert sind, was aber selten ist: Nur in jedem fünften Fall hat der Arbeitgeber den Kontakt zum Arzt oder zur Ärztin gesucht. Es wäre darum wichtig, dass die behandelnden Mediziner viel häufiger und schneller eine «Hauptrolle» übernehmen.

Das Dilemma psychisch kranker Mitarbeitender
90 Prozent der Vorgesetzten wären erleichtert, wenn die Mitarbeitenden ihre psychischen Probleme offenlegen würden, und 40 Prozent wollen Angestellte nicht behalten, die ihre psychischen Schwierigkeiten erst nach der Anstellung offenlegen. Gleichzeitig würden 60 Prozent der Führungskräfte eine Person gar nicht erst anstellen, die beim Bewerbungsgespräch psychische Probleme erwähnt. Psychisch belastete Mitarbeitende stecken also im Dilemma: Sie werden eher nicht angestellt, wenn sie sich zu Beginn outen; verschweigen sie das Problem, werden sie vielleicht später entlassen.

Anreize für Betriebe, Ärztinnen und Versicherungen
Die Studie zeigt: Das Bewusstsein bei Führungskräften und Personalverantwortlichen, bei Versicherungen, Behörden oder Verbänden für das Problem psychisch belasteter und kranker Mitarbeitender ist trotz grosser Medienpräsenz seit Jahren immer noch sehr tief. Sensibilisierungsaktionen oder Appelle nützen offenbar zu wenig. Es braucht verbindlichere Massnahmen, um ein grundlegendes Umdenken herbeizuführen. Denkbar und zielführend wären etwa Anreize für ein stärkeres Engagement, bei psychisch kranken oder auffälligen Arbeitnehmenden viel früher den Kontakt zu den behandelnden Ärzten zu suchen oder sie möglichst früh bei der IV-Stelle zu melden. Ein Umdenken braucht es auch in der widersprüchlichen Haltung und deren Konsequenzen gegenüber psychischen Problemen im Betrieb.

Empfohlen werden Leitlinien und Schulungen, vorab für Vorgesetzte zum Umgang mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden oder für Hausärzte für das Ausstellen von Arbeitszeugnissen, die stärker auf die konkrete Arbeitssituation ausgerichtet sind. Es bräuchte auch ein verbindliches Prozedere punkto Zusammenarbeit von Ärzten, Versicherungen und Arbeitgebern. Der Umgang mit Patientinnen und Patienten mit Arbeitsproblemen sollte in die Fort- und Weiterbildung von Hausärzten und Psychiaterinnen einfliessen. (HSLU/mc/pg)

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