Bern – In der Schweiz ist die in der Bundesverfassung festgehaltene Gleichstellung der Geschlechter nicht realisiert. Dabei wäre damit nicht nur ein Mehr an Gerechtigkeit, sondern auch ein ökonomischer Nutzen verknüpft. Die Verwirklichung der Gleichstellung ist indes nicht einfach von oben zu verordnen: Sie muss von allen Mitgliedern der Gesellschaft getragen werden. Zu diesem Schluss kommt das Nationale Forschungsprogramm «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60).
Das NFP 60 hat den Stand der Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz in 21 Forschungsprojekten unter die Lupe genommen. Nun liegt die Synthese der Erkenntnisse vor. Der zentrale Befund: Die Gleichstellung der Geschlechter ist in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie soziale Sicherheit nur zum Teil realisiert.
Bildung: Geschlechterstereotype Vorstellungen dominant
In Kinderkrippen und Schulen sind nach wie vor Praktiken gängig und Lehrmittel im Einsatz, die Kindern geschlechterstereotype Vorstellungen von «weiblichem» beziehungsweise «männlichem» Verhalten vermitteln. Lehrkräfte, Schuldirektionen und Berufsfachstellen unterstützen «untypische» Bildungs- und Berufsorientierungen von Mädchen und Jungen zu wenig. Dem Anliegen der Gleichstellung kommt im Schulalltag ein zu geringer Stellenwert zu, da die Meinung vorherrscht, diese sei realisiert.
Die Neigungen und Interessen der Jugendlichen werden durch normierte Bilder von «Weiblichkeit» und «Männlichkeit» gesteuert. Junge Männer nehmen bei Berufsentscheiden ihre künftige Rolle als Ernährer der Familie vorweg, junge Frauen wählen Berufe, die trotz Familienpause oder in Teilzeit ausgeübt werden können. So wird die Ungleichstellung von «männertypischen» und «frauentypischen» Berufen ebenso verfestigt wie die unausgewogene Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen – zu Lasten Letzterer.
Arbeitsmarkt: Von Anfang an tiefere Löhne für Frauen
Junge Frauen erhalten beim Berufseinstieg für gleichwertige Arbeit weniger Lohn. Diese Ungleichheit widerspricht nicht nur dem Gleichheitsprinzip, sondern beeinflusst auch das Verhältnis der Geschlechter, indem sie in Partnerschaften und Familien bestimmt, wer die unbezahlte Familienarbeit bewältigt. Unternehmen und die öffentliche Hand gehen davon aus, dass Frauen Familienarbeit leisten und Männer ihr Leben ausschliesslich dem Beruf widmen. Besonders in männerdominierten Branchen sind geschlechterstereotype Vorstellungen über Erwerbslaufbahnen, die Verfügbarkeit am Arbeitsplatz oder die Kompetenzen vorherrschend.
Von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind Frauen wie Männer betroffen; rund jede zweite Person ist mit potenziell belästigendem Verhalten konfrontiert. Bei den Frauen ist jedoch die subjektive Betroffenheit höher, weil sie dieses Verhalten aufgrund der traditionellen Machtverteilung sowie der körperlichen Kräfteverhältnisse bedrohlicher wahrnehmen als Männer. Präventive Wirkung hat eine Unternehmenskultur, die von gegenseitigem Respekt und ethischen Grundsätzen geprägt ist.
Zu wenig familienergänzende Betreuungsmöglichkeiten
Auch Steuern, Sozialtransfers und Kinderbetreuungskosten beeinflussen den Entscheid der Eltern, wer arbeiten geht und wer die unbezahlte Hausarbeit übernimmt. Punkto Angebot an familienergänzender Kinderbetreuung liegt die Schweiz im internationalen Vergleich zurück. Ein bezahlbares Betreuungsangebot führt dazu, dass Paare die familiäre Arbeitsteilung überdenken und eher partnerschaftliche Erwerbs- und Betreuungsmodelle realisieren.
Wenn Betriebe sich um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kümmern, konzentrieren sie sich auf junge Frauen und die Familiengründung. Frauen und Männer, die sich in der zweiten Hälfte ihrer beruflichen Laufbahn befinden, werden übersehen und von Weiterbildungsmassnahmen ausgeschlossen. Dies behindert die Gleichstellung der Geschlechter.
Soziale Sicherheit: Frauen sind im Alter in Notlagen ungenügend gesichert
Arbeit im Niedriglohnbereich und in Teilzeit sowie im «Care-Bereich» hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Diese oft prekären Arbeitsformen stellen für viele Menschen eine unsichere Existenzgrundlage dar, wobei doppelt so viele Frauen wie Männer davon betroffen sind. Wegen der Koppelung der Sozialversicherungsbeiträge an eine kontinuierliche, vollzeitliche Erwerbsbiographie sind Frauen über fünfzig oft schlechter gestellt oder in Notlagen nicht hinreichend gesichert und auf Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen der AHV/IV angewiesen: Sie erhalten im Pensionsalter bis zu dreimal weniger Renten als Männer, die – entlastet von der unbezahlten Familienarbeit – oft kontinuierlich vollzeitlich arbeiten und sich dadurch ausreichend absichern können.
Das wichtigste Mittel zur Existenzsicherung ist in der Schweiz Bildung: Das Fehlen nachobligatorischer Bildung ist das Armutsrisiko Nummer eins. Erwerbslose Frauen im mittleren Alter hatten in ihrer Jugend kaum die Chance, eine Berufsbildung zu absolvieren, und werden auch später zu wenig gefördert.
Einiges wurde erreicht, viel bleibt zu tun
Die Leitungsgruppe des NFP 60 kommt zum Schluss, dass Eltern wie Lehrpersonen sich ihres grossen Einflusses auf die Studien- und Berufswahl der Jugendlichen bewusst sein sollten. Arbeitgeber müssen dafür sorgen, dass alle Arbeitnehmenden neben der Berufsarbeit unbezahlte «Care-Arbeit» erbringen können, ohne deshalb benachteiligt zu werden. Die Vereinbarkeit von Familie, Bildung und Beruf erfordert günstige Betreuungsangebote für Kinder sowie für betreuungsbedürftige Erwachsene.
Damit sich Erwerbsarbeit lohnt, müssen Einkommen, Steuern, Sozialtransfers und Betreuungskosten so aufeinander abgestimmt werden, dass ein höherer Lohn ein höheres verfügbares Einkommen zur Folge hat. Eine Bildungsoffensive könnte unqualifizierte Erwerbslose – häufiger Frauen als Männer – dabei unterstützen, einen Berufsabschluss nachzuholen. Generell sollten die Instrumente der sozialen Sicherheit – Sozialversicherungen und Sozialhilfe – die Vielfalt von Familienmodellen berücksichtigen. Erst wenn man auch mit Teilzeitarbeit eine angemessene soziale Absicherung und Vorsorge erhält, haben Männer und Frauen gleiche Chancen, ihre Existenz eigenständig zu sichern. (SNF/mc/pg)