Zürich – Seit gut einem halben Jahrhundert setzt die Landwirtschaft weltweit systematisch auf die massenhafte Nutzung chemisch-synthetischer Pestizide. Die Schweiz ist kein Musterland. Nun zeigt sich immer mehr, dass diese Produkte Boden- und Wasserorganismen schädigen sowie Tiere und Menschen krank machen können. Die Bewilligungspraxis muss dringend angepasst werden.
Der neue Greenpeace-Bericht «Europas Abhängigkeit von Pestiziden: So schädigt die industrielle Landwirtschaft unsere Umwelt» untersucht den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide in Europa und die daraus resultierenden weitreichenden und schwerwiegenden Auswirkungen auf die Umwelt. Der Bericht stellt fest, dass die Biodiversität in Europa in den letzten Jahrzehnten um fast 50 Prozent abgenommen hat und zeigt auf, dass der Pestizideinsatz für einen wesentlichen Teil dieses Verlustes verantwortlich ist. Er betont, wie dringend die Zulassungbestimmungen verschärft werden müssen, um die negativen Folgen für Mensch, Fauna und Flora zu verringern.
Risiko wird nachträglich oft anders beurteilt
Pestizide können bei Tieren und Menschen eine Vielzahl von subtilen und komplexen Wirkungen sowie Spätfolgen hervorrufen[i]. Immuntoxizität und Störungen des Hormonsystems sind zwei relativ bekannte Beispiele für solche Wirkungen. Risikobewertungen und Zulassungen von Pestiziden haben sich wiederholt als problematisch oder ungenau erwiesen. Zwei Beispiele gaben in jüngerer Zeit zu reden:
Die Teilverbote der Neonicotinoide Thiamethoxam (Syngenta), Imidacloprid und Clothianidin (Bayer) erfolgten erst, nachdem sich in der wissenschaftlichen Literatur die Hinweise dafür gemehrt hatten, dass diese systemischen Insektizide schwerwiegende negative Auswirkungen auf Honigbienen und andere Bestäuber haben[ii]. Die betroffenen Konzerne reagieren mit Einschüchterungsversuchen, Klagen und Diskreditierung unabhängiger wissenschaftlicher Untersuchungen als «unwissenschaftlich».
Ein weiteres Beispiel: Die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Glyphosat als «wahrscheinlich krebserregend» eingestuft – Jahrzehnte nach der Bewilligung durch die Behörden. Untersuchungen der Universität Leipzig bringen das Totalherbizid mit weiteren schweren Erkrankungen bei Menschen und bei Tieren[iii] in Verbindung, unter anderem mit Missbildungen bei Ferkeln[iv]. In den nächsten Monaten werden die Behörden sowohl in der Schweiz wie auch in der EU über die weitere Zulassung von Glyphosat entscheiden.
Bewilligungspraxis eine Farce
Aufgrund der bekannten möglichen Gefahren von Pestiziden, die in offenen Systemen angewendet werden, müssen alle Pestizide ein Zulassungsverfahren durchlaufen, bevor sie eingesetzt werden dürfen. Dieses setzt sich zusammen aus einer Effektbewertung (basierend auf Toxizitätsprüfungen) sowie einer Expositionsbewertung (basierend auf der Modellierung verschiedener Szenarien). Da für die Bewertungen normalerweise keine Felddaten zur Verfügung stehen, wird auf eine mathematische Modellierung zurückgegriffen. Die Bewilligungsentscheide der Behörden basieren nicht auf eigenen Untersuchungen, sondern auf den Daten der Hersteller.
Ein weiteres grosses Defizit im Regulierungssystem der EU und der Schweiz ist, dass die Überwachung neuer Pestizide oft deutlich hinter deren Einführung herhinkt. Probleme können deshalb nicht immer rechtzeitig erkannt werden. Das toxikologische Verhalten von Wirkstoffgemischen wird zum Beispiel kaum erforscht. Die Bewilligungsentscheidung ist gründlich zu überdenken. Philippe Schenkel, Agrarexperte bei Greenpeace Schweiz, sagt: « Die Behörden – nicht selten Mitarbeitende mit einer Vergangenheit in der Agrochemie – erstellen Bewilligungen von Pestiziden lediglich auf Basis von Hersteller-Angaben, nicken de facto einfach Industrie-Resultate ab, ohne diese selbst überprüfen zu können. Das heutige Zulassungsverfahren gewichtet Wirtschaftsinteressen stärker als den Schutz der Umwelt und Gesundheit. Das ist unverantwortlich.»
Der einzig sichere Weg, die Exposition gegenüber giftigen Pestiziden zu verringern, ist die Umstellung auf einen langfristigen und nachhaltigen Ansatz in der Nahrungsmittelproduktion. Statt weiter in eine Intensiv-Landwirtschaft zu investieren, braucht es die Förderung und Weiterentwicklung (Erforschung) ökologischer Anbaumethoden, die ohne synthetische Pestizide auskommen. Behörden und Politik müssen die Lebensgrundlagen sowie die Menschen und Tiere vor den Risiken durch Pestizide schützen. Es braucht einen griffigen nationalen Pestizidreduktionsplan. (Greenpeace/mc/ps)
Greenpeace-Report «Europas Abhängigkeit von Pestiziden» (pdf)
Weitere Informationen und die Pestizid-Studie finden Sie unter www.greenpeace.ch