Heimatlos.

Rückkehrzentrum für abgewiesene Asylsuchende in Biel-Bözingen, Oktober 2021. (Foto: Raphael Moser)

Von Urs Hafner

Basel – Migration löst Ängste aus, sowohl bei den Eingesessenen als auch bei den Zuwandernden. Kaum untersucht sind die Ängste von Kindern, die in den kantonalen Rückkehrzentren untergebracht sind. Walter Leimgruber sagt, sie würden dort zugrunde gehen.

Wenn Menschen in ein Land einwandern, kommen Ängste auf. Einerseits fühlen sich die Eingesessenen durch die Neuankömmlinge verunsichert. Zum Phänomen der «Xenophobie» gibt es viele sozialwissenschaftliche Studien. Die «Angst vor dem Fremden» wird verstärkt durch wirtschaftliche Krisen, sozialen Wandel und politische Bewegungen, die sowohl die Krisen als auch die Ängste in ihrem Interesse bewirtschaften.

Andererseits haben auch die Zugewanderten Ängste – nur sind diese von den Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern kaum erforscht. Vermutlich beschäftigen sie sich lieber mit dem Naheliegenden, mit den Einheimischen, zu denen auch sie zählen.

Zwischen Stuhl und Bank gefallen
Dabei wären Informationen zur Befindlichkeit der Zugewanderten relevant nur schon aus dem einfachen Grund um zu wissen, wie es ihnen geht. «Der Migrant und die Migrantin sind quasi zwischen Stuhl und Bank gefallen. Auf der einen Seite betreibt die Forschung die Aufklärung der Bevölkerung, um deren Ängste abzubauen, auf der anderen Seite instrumentalisiert die Politik diese Ängste. Um die Ängste der Einwanderer scheint sich niemand zu kümmern», sagt Walter Leimgruber, Professor für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM). Eine Ausnahme bildet die psychologische Traumaforschung, die sich auf eine kleine Minderheit von Migrantinnen und Migranten spezialisiert hat.

Eines der wenigen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte, die sich mit der psychischen und physischen Verfassung von Eingewanderten beschäftigen, wird vom Marie Meierhofer Institut für das Kind durchgeführt. Die EKM ist Auftraggeberin und Walter Leimgruber am Konzept der Studie beteiligt. Er hat Einblick in mehrere sogenannte Rückkehrzentren erhalten, die mitunter in baufälligen Häusern, Containern oder Luftschutzkellern eingerichtet sind.

«Die Kinder sind stark verängstigt. Die Ängste machen sie kaputt. Sie leben hier in einer Art Limbus, in einem vorhöllenähnlichen Zwischenraum, in den sie ohne eigenes Verschulden geraten sind.»

Hier leben unter prekären Bedingungen Einzelpersonen und Familien zum Teil bis zu fünf Jahre oder sogar länger. Ihre Asylanträge sind abgelehnt worden, aber sie weigern sich auszureisen – weil sie in ihrem Herkunftsland keine Zukunft sehen, sich vor Strafverfahren und Verfolgung fürchten, psychisch blockiert sind oder keine Papiere erhalten. Die meisten kommen aus Eritrea, viele aus Tibet.

«Vor allem für Kinder und Jugendliche ist die Situation dramatisch. Sie kennen kein normales soziales Umfeld. Die Familie lebt in einem Zimmer. Jugendliche müssen ihre Lehre abbrechen. Sie bekommen mit, wie die Polizei nachts Personen für die Rückschaffung abholt, werden Zeugen von Gewalt und Drogen. Ihre Eltern sperren sie im Zimmer ein, um sie zu schützen», sagt Leimgruber.

«Die Kinder sind stark verängstigt. Die Ängste machen sie kaputt. Sie leben hier in einer Art Limbus, in einem vorhöllenähnlichen Zwischenraum, in den sie ohne eigenes Verschulden geraten sind.» Betroffen von dieser Situation sind pro Jahr zwischen 3000 und 4000 Personen, davon rund 700 Kinder und Jugendliche. Sie erhalten täglich zwischen fünf und acht Franken Nothilfe.

«Die Reaktion zeigte mir, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Den Verantwortlichen sind die Zustände sehr wohl bewusst.»

Prof. Dr. Walter Leimgruber

Im Kanton Bern hat Leimgruber seine Kritik publik gemacht, worauf die Regierung «hässig und beleidigt» reagierte, wie «Der Bund» schrieb. «Die Reaktion zeigte mir, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Den Verantwortlichen sind die Zustände sehr wohl bewusst», sagt Leimgruber.

Der Kulturwissenschaftler betont, für das Problem gebe es keine einfache Lösung. «Würde man auf alle Betroffenen einfach die Härtefallregelung anwenden, setzte man damit das gesamte Asylverfahren ausser Kraft. Das wäre zum Nachteil aller Asylsuchender. Die Kinder aber müssen aus den Zentren herausgeholt werden», sagt er. «Solange die Familien noch in der Schweiz leben, müssen die Kinder die Schule besuchen und sich frei bewegen können.»

Wenn das nicht geschieht, droht sich die Geschichte der sogenannten Verdingkinder zu wiederholen, diesmal ohne Fremdplatzierung. Dann muss die Schweiz in einigen Jahrzehnten erneut eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) einrichten, die diesmal die Schicksale der Kinder untersuchen und zum Schluss kommen wird, die Behörden hätten moralisch versagt. (Universität Basel/mc/ps)

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

Exit mobile version