AkademikerInnen stellen den Grossteil des Führungspersonals in Politik, Behörden und Wirtschaft. Aber haben wir unter ihnen auch genügend AbsolventInnen jener nationalen Führungsschule, die sich nicht über den Bildungsetat finanziert?
Von Dr. Fritz Kälin
2021: Politisches hochstapeln gegen Hochwasser in Deutschland
Neulich begegnete mir in meinem Newsfeed auf Social Media eine Gegenüberstellung. Links ein Zitat von Helmut Schmidt, wie er als Polizeisenator in Hamburg bei der Flutkatastrophe 1962 zivile und militärische Hilfe im In- und Ausland mobilisierte. Rechts ein Zitat aus einem SMS von Anne Spiegel, der inzwischen zurückgetretenen Familienministerin Deutschlands, das sie am Morgen des 15. Juli 2021 schickte. Sie war damals rheinland-pfälzische Umweltministerin, als im Ahrtal eine verheerende Flut 134 Menschenleben fortriss. Das Ausmass der Katastrophe zeichnete sich an diesem Morgen bereits ab, als die Ministerin ihrem Pressesprecher per SMS schrieb:
Das Umweltministerium bat Anne Spiegel am Tag zuvor noch um Freigabe einer Pressemitteilung. Es drohe eine ernste Lage, aber «kein extremes Hochwasser». Flussanlieger, insbesondere Campingplatzbetreiber, sollten Vorkehrungen gegen das steigende Wasser treffen. Ministerin Spiegel gab die Mitteilung mit folgendem SMS frei: «Konnte nur kurz draufschauen, bitte noch gendern CampingplatzbetreiberInnen, ansonsten Freigabe.»
Was wohl im Ahrtal passiert wäre, wenn die grüne Umweltministerin nicht diese Korrektur angebracht hätte? Dem Leutnant im Zweiten Weltkrieg und späteren SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt wäre derlei 1962 sicher nicht aufgefallen. 1958 war Schmidt übrigens aus dem Vorstand der SPD-Bundeshausfraktion abgewählt worden, weil er als Hauptmann der Reserve an einer Bundeswehrübung teilgenommen hatte, was ihn in den Augen seiner Genossen zu einem Militaristen machte. Als Kanzler musste Schmidt ähnliche Vorwürfe ertragen, weil er den Nato-Doppelbeschluss mittrug. Der heute amtierende Bundeskanzler Scholz hat seinen Wehrdienst verweigert. Er setzte auf Diplomatie, als die russischen Kriegsvorbereitungen gegenüber der Ukraine bereits alle historischen ‹Pegelstände› überschritten und Gazprom die deutschen Gasspeicher 2021 nicht auffüllte. Die Naivität der deutschen Regierungsparteien wird nur noch vom Antiamerikanismus der linken und rechten Oppositionsparteien übertroffen.
1987: Kriegsvorbereitungen retten in der Schweiz Menschenleben vor Hochwasser
Am 24. August 1987 ereigneten sich im Kanton Uri schwere Unwetter. Der über die Ufer getretenen Reuss fiel Vieh und Materialwert zum Opfer, aber keine Menschenleben. In meiner Doktorarbeit über die frühere schweizerische «Gesamtverteidigung» schrieb ich zu diesem Ereignis: «Ohne das eingespielte Verhalten der Behörden wären jedoch sicherlich auch Menschen zu Schaden gekommen. Doch dank der vorabendlichen Meldung des bedrohlich anschwellenden Wasserstandes durch die Polizei trat der Kantonale Führungsstab zu einer vorsorglichen Lagebeurteilung zusammen. Der für solche Lagen vorgesehene Ausschuss des Regierungsrates wurde orientiert und auch die Führungsstäbe der gefährdeten Gemeinden wurden aufgeboten. Erste Evakuationsmassnamen wurden angeordnet und erwiesen sich bald als lebensrettend. Als die Überflutung und Schäden einsetzen, war bereits der gesamte Kantonale Führungsstab im Friedens-Kommandoposten im Einsatz. […] Der Führungsstab setzte sich mit der Armee […] in Verbindung. Am Folgetag wurden die Truppen vor allem an den gebrochenen Dämmen eingesetzt. […]»
Das Unwetter setzte im Kanton Uri lebensrettende Mechanismen in Gang, welche die Entscheidträger als Milizoffiziere und im Rahmen von regelmässigen Übungen verinnerlicht hatten. Der letzte Direktor der damaligen «Zentralstelle für Gesamtverteidigung», Hansheiri Dahinden, führte 1988 in einem Referat aus, welchen Mehrwert die auf den Kriegsfall ausgelegte Landes- respektive Gesamtverteidigung für den Katastrophenschutz hatte:
«Hier aber, bei der Bewältigung der Unwetterkatastrophe, erhält das oft blutleer scheinende Gebilde ‹Gesamtverteidigung› plötzlich Leben und wird greifbar und verständlich. Leider ist mir aber aufgefallen, dass sozusagen in keiner Zeitung, und am Radio oder Fernsehen schon gar nicht, auf diese Tatsache hingewiesen wurde. Man hat bestenfalls von der Hilfeleistung der Armee gesprochen. Dabei hätte man meines Erachtens als Schlagbalken über den Katastrophenfotos schreiben müssen:
‹Katastrophe gut bewältigt – dank Gesamtverteidigungsvorbereitungen!›
In der Tat, Sie wissen es, ist man noch vor wenigen Jahren in Kantonen und Gemeinden solchen Ereignissen viel hilfloser gegenübergestanden.»
(Zitiert aus: «Katastrophenfall und Krisenmanagement» Zusammenfassung des Referates Direktor ZGV am Seminar strategische Entscheidträger 8./9.09.1988, Bern)
Fehlt der heutigen Krisen- und Katastrophenvorbereitung der notwendige Ernst früherer Kriegsvorkehrungen?
Seit 1997 gibt es in der Schweiz keine Gesamtverteidigung mehr. Sie galt dem damaligen politischen Zeitgeist als ein auf obsolete kriegerische Szenarien ausgerichtetes Relikt des Kalten Krieges. Seit etwas mehr als zehn Jahren wird mit dem «Sicherheitsverbund Schweiz» (SVS) versucht, wieder eine gesamtheitlichere nationale Krisenvorbereitung aufzubauen. Auf ‹kriegerische› Szenarien wurde bei den bisherigen Übungen verzichtet. Mit Strommangellage, Pandemie und Terrorismus wurden die wahrscheinlichsten Bedrohungen unserer Zeit durchexerziert. Fehlende Schutzmasken und Desinfektionsmittel zu Beginn der echten Pandemie 2020 müssen aber die Frage erlauben, ob im Rahmen des SVS ‹Pflichtübungen› abgehalten wurden, ohne daraus ernsthafte Vorbereitungen für einen Ernstfall abzuleiten? Haben wir auch in der Schweiz zu wenig Helmut Schmidts und zu viele Anne Spiegels?
Die Armee als Führungsschule der Nation
Eine Offizierslaufbahn allein garantiert natürlich noch keine politischen Führungsqualitäten in der Krise. Aber der Militärdienst ist eine der wenigen Möglichkeiten, in unserer (zum Glück!) von Frieden und Wohlstand verwöhnten Gesellschaft zu erleben, dass Menschen über sich hinauswachsen, wenn sie als Schicksalsgemeinschaft gemeinsam Entbehrungen ertragen und Herausforderungen meistern. Die Milizarmee bildet nicht bloss Offiziere für den Kriegsfall aus, sondern Führungspersönlichkeiten. Darum zum Abschluss ein «Wording»-Tipp zum Thema Wehrpflicht für Frauen: Nicht die Schweizer Armee braucht mehr Frauen, sondern das Land braucht mehr Bürgerinnen und Bürger in Uniform.
Je mehr ‹Militaristen und Militaristinnen› die verantwortungsvollsten Führungspositionen unseres Land besetzen, desto ruhiger schlafe ich, wenn es wieder einmal länger regnet, weltweit die Rüstungsausgaben steigen und sich Engpässe in der Energie- und Nahrungsmittelversorgung abzeichnen.
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