Hoffnung für Menschen mit Querschnittlähmung

Grégoire Courtine

EPFL-Neurowissenschaftler Grégoire Courtine im Umfeld der neuen Gain Platform am Lausanner Universitätsspital. (Foto: Hillary Sanctuary/EPFL)

Lausanne – Wissenschaftler der ETH Lausanne (EPFL) haben herausgefunden, wie sich die Gliedmassen vollständig gelähmter Ratten in Echtzeit steuern lassen, damit die Tiere wieder laufen können. Die Ergebnisse ihrer Arbeit wurden am Mittwoch in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine veröffentlicht.

Dieser neue, auf früheren Studien mit Ratten basierende Durchbruch ist Teil einer allgemeineren, im Rahmen des europäischen Projekts NEUWalk entwickelten Therapie, die eines Tages bei Rehabilitationsprogrammen für Menschen mit Rückenmarksverletzungen eingesetzt werden könnte. Die klinischen Tests könnten bereits nächsten Sommer mithilfe der neuen, zurzeit am Waadtländer Universitätsspital CHUV gebauten Gait Platform beginnen.

Funktionsprinzip
Der menschliche Körper braucht Strom, um zu funktionieren. Das menschliche Gehirn hat beispielsweise eine elektrische Ausgangsleistung von rund 30 Watt. Wenn die Schaltkreise des Nervensystems beschädigt sind, wird die Übertragung der elektrischen Signale beeinträchtigt, was oft zu verheerenden neurologischen Störungen wie Lähmungen führt. Es ist bekannt, dass eine elektrische Stimulierung des Nervensystems hilft, diese neurologischen Probleme auf vielen Ebene zu lindern. Bei der Behandlung des für die Parkinson-Krankheit typischen Zitterns wird beispielsweise die tiefe Hirnstimulation eingesetzt. Elektrische Signale können genutzt werden, um Nerven zu stimulieren und so den Tastsinn in fehlenden Gliedmassen von Amputierten wiederzuerlangen, und über eine elektrische Stimulierung des Rückenmarks kann die Bewegungssteuerung bei Rückenmarksverletzungen wiederhergestellt werden.

Können elektrische Signale aber auch Paraplegikern helfen, wieder ganz normal zu gehen? Die Antwort lautet: Ja, zumindest bei Ratten. «Wir haben volle Kontrolle über die Hinterbeine der Ratten», sagt EPFL-Neurowissenschaftler Grégoire Courtine. «Sie haben keinerlei willentliche Kontrolle über ihre Gliedmassen, aber das durchtrennte Rückenmark kann reaktiviert und stimuliert werden, um einen natürlichen Gang auszulösen. Wir können in Echtzeit steuern, wie sich die Ratten vorwärtsbewegen und wie hoch sie ihre Beine heben.»

Die Wissenschaftler untersuchten Ratten mit auf halber Rückenhöhe vollständig durchtrenntem Rückenmark, sodass die Signale aus dem Gehirn den unteren Teil der Wirbelsäule nicht mehr erreichen konnten. Dort wurden anschliessend mittels eines chirurgischen Eingriffs elastische Elektroden implantiert. Dann wurde das Rückenmark durch die Einspeisung von Strom in die Elektroden stimuliert.

Die Forscher stellten fest: Wie hoch die Ratte ihre Beine hebt, hängt von der Stromfrequenz ab. Auf dieser Grundlage sowie einer sorgfältigen Analyse des Gangs der Ratten gestalteten sie die elektrische Stimulierung so, dass sich die Gehbewegungen der Ratten an auftauchende Hindernisse und Treppen anpassten.

«Einfache wissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionsweise des Nervensystems können genutzt werden, um wirksamere Neuroprothesentechnologien zu entwickeln», erklärt Mitautor und Neuroingenieur Silvestro Micera. «Wir sind überzeugt, dass diese Technologie eines Tages die Lebensqualität von Menschen mit neurologischen Erkrankungen deutlich steigern könnte.» Courtine und Micera gehen gemeinsam mit ihren Kollegen am EPFL-Zentrum noch einen Schritt weiter und prüfen auch die Möglichkeit einer Entschlüsselung der direkt vom Hirn gesendeten Signale für die Beinbewegung und die Nutzung dieser Informationen zur Stimulierung des Rückenmarks.

Auf dem Weg zu klinischen Tests mithilfe der Gait Platform am CHUV
Die in dieser Studie vorgestellte elektrische Stimulierung wird im Rahmen einer vielleicht schon nächsten Sommer beginnenden klinischen Untersuchung an Patienten mit unvollständiger Rückenmarksdurchtrennung getestet. Dabei kommt die neue Gait Platform mit innovativer Überwachungs- und Rehabilitationstechnologie zum Einsatz. Die von Courtines Team gebaute Einrichtung besteht aus massgeschneiderten Geräten wie einem Laufband und einem Aufhängungssystem sowie 14 Infrarotkameras, die reflektierende Markierungen am Körper des Patienten anpeilen, und zwei Videokameras. All dies generiert grosse Mengen an Daten über Bein- und Körperbewegungen. Diese Informationen können für eine umfassende Überwachung und Feineinstellung der Geräte vollständig synchronisiert werden, um so beim Patienten eine intelligente Unterstützung und eine anpassungsfähige elektrische Rückenmarkstimulierung zu erzielen. (EPFL/MyH/pg)

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