AFM-Bild eines Referenzmoleküls (links) und eines sogenannten Arin Precursors (rechts). (Foto: IBM)
Zürich / Santiago de Compostela – Wissenschaftler von IBM Research – Zürich und des Centro de Investigación en Química Biolóxica e Materiais Moleculares (CiQUS) der Universität von Santiago de Compostela haben mithilfe eines Rasterkraftmikroskops (englisch Atomic Force Microscope, kurz AFM) erstmals die Struktur von Arinen abgebildet und damit deren Existenz auch direkt nachweisen können. Arine gehören zu einer Klasse von sehr kurzlebigen und reaktionsfreudigen Molekülen. Die Forschungsarbeit ist ein weiterer eindrücklicher Beleg für das Potenzial der von den IBM Forschern entwickelten AFM-Methode, um chemische Strukturen von Molekülen abzubilden. In der Oberflächenchemie und Nanoelektronik eröffnet sie ein neues Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten, etwa zur Herstellung von Graphen-Nanobändern oder die Synthese neuartiger Bauteile aus einzelnen Molekülen.
In unserem Universum gibt es Billionen von Molekülen und einige davon sind stabil genug, um sie zu isolieren und zu charakterisieren. Aber viele andere sind so kurzlebig, dass ihre Struktur nur indirekt über chemische Reaktionen und spektroskopische Methoden erschlossen werden kann. Dazu gehören auch Arine, für die 1902 erste Hinweise entdeckt wurden und die seither als Zwischenprodukte oder Bausteine in der Synthese einer Vielzahl von Verbindungen z.B. in der Medizin oder der organischen Elektronik vorkommen. Die Herausforderung bei diesen Molekülen liegt darin, dass sie nur für wenige Millisekunden existieren, was es – bis jetzt – unmöglich gemacht hat, ihre Struktur abzubilden.
In der heute veröffentlichten Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Nature Chemistry beschreiben die IBM und CiQUS Forscher erstmals die Abbildung eines einzelnen Arin-Moleküls. Die Arbeit ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Prof. Diego Peña und seinem Team, das sich u.a. auf das Gebiet der Arin-Chemie spezialisiert hat, und der Forschungsgruppe von Dr. Leo Gross und Dr. Gerhard Meyer am IBM Forschungszentrum in Rüschlikon, die neuartige Techniken für das AFM entwickelt.
Experimente bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt
Nach der Herstellung des Ausgangsmoleküls für Arine, des sog. Arin Precursors, durch CiQUS, nutzten die IBM Wissenschaftler zunächst die scharfe Spitze ihres Rastertunnelmikroskops (Scanning Tunneling Microscope, kurz STM), um durch atomare Manipulation einzelne Arin-Moleküle herzustellen. Dabei entfernten sie gezielt zwei Iodatome. Die Experimente wurden auf einer nur wenige Atomlagen dünnen Schicht aus Natriumchlorid bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt durchgeführt, um das Molekül zu stabilisieren. Nach der Isolation eines einzelnen Moleküls nutzte das Team ein Rasterkraftmikroskop (AFM), um die kleinen Kräfte zwischen der AFM-Spitze, die mit einem einzelnen Kohlenmonoxidmolekül terminiert ist, zu messen und so die molekulare Struktur des Arin-Moleküls abzubilden. Das resultierende Bild war so präzise, dass die Wissenschaftler sogar kleinste Unterschiede zwischen den einzelnen Atombindungen im Molekül untersuchen konnten.
„Arine werden in jedem Grundkurs in organischer Chemie auf der Welt behandelt. Daher ist es fast schon eine Erleichterung nun endlich eine Bestätigung für die Existenz dieser Moleküle zu haben“, sagt Prof. Diego Peña, Chemiker an der Universität von Santiago de Compostela. „Ich freue mich darauf, neue Herausforderungen in der Chemie durch eine Kombination aus organischer Synthese und dem AFM gelöst zu sehen.“
Ergebnis des europäischen Forschungsprojektes PAMS
„Das IBM-Team hat seit 2009 verschiedene Pionierleistungen bei STM- und AFM-Technologien demonstriert, die diese nun veröffentlichte Arbeit erst möglich gemacht haben“, sagt Dr. Niko Pavliček, Physiker am IBM Forschungszentrum. „Der isolierende Film, an dem sich die Moleküle anlagern konnten, und die speziell präparierte AFM-Spitze waren essentiell für dieses Experiment. Wir hoffen, dass diese Technik für die zukünftige Forschung und Entwicklung in der Chemie und Elektronik bedeutsam wird.“
Diese Arbeit ist das Ergebnis des europäischen Forschungsprojektes PAMS (Planar Atomic and Molecular Scale Devices). Das Hauptziel von PAMS ist die Entwicklung und Erforschung von neuen elektronischen Bauteilen auf der Nanoskala. Zusätzlich wurde ein Teil der Forschung durch einen European Research Council Advanced (ERC) Grant unterstützt, der an Dr. Gerhard Meyer verliehen wurde. Die renommierten ERC Grants stehen für wissenschaftliche Exzellenz und fördern „die besten Forscher, die an den Grenzen des bekannten Wissens forschen“ in Europa.
IBM Research – Zürich und CiQUS haben bereits vorher miteinander kooperiert und wissenschaftliche Arbeiten zur Abbildung und Unterscheidung der molekularen Bindungen und zur Synthese und Abbildung von Nanographen publiziert.
Diese Forschung ist Teil von IBMs 2014 angekündigter und auf fünf Jahre angelegter, drei Milliarden US-Dollar umfassender Investition in zwei Programme, deren Ziele die Erforschung und Entwicklung von neuartigen Chiptechnologien sind. Im Fokus stehen dabei schnellere und effizientere Prozessoren mit Strukturgrössen von sieben und weniger Nanometern sowie die Entwicklung von Post-Silizium-Technologien für die gestiegenen Anforderungen von Cloud Computing und Big Data. (IBM/mc/ps)
Das STM und AFM
Das STM und das AFM sind zwei herausragende Instrumente für die Forschung auf atomarer und molekularer Skala. Das STM wurde 1981 von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer am IBM Forschungszentrum Zürich erfunden und ermöglichte es erstmals, einzelne Atome auf einer Oberfläche sichtbar zu machen. Für diese bahnbrechende Entwicklung erhielten die beiden Wissenschaftler 1986 den Nobelpreis für Physik.
Das AFM, das 1985 von Gerd Binnig erfunden wurde, basiert auf einer Messspitze, die an einem beweglichen Federbalken angebracht ist. Dadurch lassen sich die winzigen Kräfte zwischen der Spitze und der Probe bestimmen, um so ein hochaufgelöstes Bild der Probe zu generieren.
Das STM und das AFM eröffnen die Möglichkeit, in Bereichen von einem millionstel Millimeter und darunter Strukturen abzubilden und darüber hinaus neuartige Nanobauelemente zu konstruieren und zu erforschen. Die Rastersondenmikroskopie ist damit nicht nur für die Wissenschaft von grundlegender Bedeutung, sondern auch ein wichtiger Wegbereiter für zukünftige Innovationen in der Informationstechnologie, Energietechnik, Medizin, Umwelttechnik und vielen anderen Bereichen.
Die wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel «On-surface generation and imaging of arynes by atomic force microscopy» von N. Pavliček, B. Schuler, S. Collazos, N. Moll, D. Pérez, E. Guitián, G. Meyer, D. Peña und L. Gross, erschien in Nature Chemistry. DOI: 10.1038/NCHEM.2300 (13. Juli 2015)
Über IBM Research – Zürich
IBM Research – Zürich ist der europäische Zweig der IBM Forschung, die mit weltweit rund 3000 Mitarbeitenden an 12 Standorten eine der bedeutendsten industriellen IT-Forschungsorganisationen darstellt. Das Labor wurde 1956 gegründet, befindet sich seit 1963 an seinem heutigen Standort in Rüschlikon und hat sich durch technische und wissenschaftliche Leistungen, darunter zwei Nobelpreise, den Ruf einer weltweit führenden Forschungsinstitution erworben. Heute forschen Wissenschaftler aus mehr als 45 Nationen an Themen wie Nanotechnologie, der Entwicklung künftiger Computersysteme und Speichertechnologien, Cloud Computing, Schutz von Daten und Privatheit, Supercomputing und Simulation, Big-Data-Analytik und Cognitive Computing. www.zurich.ibm.com
Über CiQUS
Das Center for Research in Biological Chemistry and Molecular Materials (CiQUS) wurde 2011 an der Universität von Santiago de Compostela (USC) gegründet. Die Mission des Centers ist multidisziplinäre Spitzenforschung an den Schnittstellen zwischen Chemie, Biomedizin und molekularen Materialien. Am CiQUS arbeiten neben 35 leitenden Wissenschaftlern rund 30 Post-Docs und mehr als 100 Studierende sowohl an der Grundlagenforschung im Bereich der biomolekularen und supramolekularen Chemie als auch an angewandter Forschung zur Entwicklung von neuen Funktionswerkstoffen für technologische und biologische Anwendungen. www.usc.es/ciqus/en.