OBT: Kapitalverlust und Überschuldung – die Pflichten des Verwaltungsrats
Von Gloria Eschenbach, Rechtsanwältin, Partnerin und Selina Bruderer, Rechtsanwältin bei OBT
Die aktuelle wirtschaftliche Lage und die Coronapandemie haben viele Unternehmen vor finanzielle Herausforderungen gestellt. Nun, da die staatliche Unterstützung in Form von erweiterter Kurzarbeitsentschädigung oder Krediten und Zuschüssen nachlässt, sind die Verwaltungsräte auf eine genaue Überwachung der finanziellen Lage der Unternehmen angewiesen.
Die Ausgestaltung des Rechnungswesens, der Finanzkontrolle sowie der Finanzplanung ist gemäss Art. 716a OR eine unübertragbare und unentziehbare Aufgabe des Verwaltungsrates. Ziel dieser Regelung ist, dass der Verwaltungsrat einen umfassenden Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Gesellschaft erhält und rechtzeitig Massnahmen ergreifen kann, sollte die Gesellschaft bspw. den budgetierten Umsatz nicht erreichen oder ein Liquiditätsengpass ersichtlich sein. Selbst wenn der Verwaltungsrat die Geschäftsführung ordnungsgemäss mittels entsprechender Ermächtigung durch die Statuten und nach Massgabe eines Organisationsreglements an die Geschäftsführung delegiert, verbleibt er für die Oberleitung der Gesellschaft und somit auch dafür verantwortlich, jederzeit einen Überblick über die finanzielle Lage der Gesellschaft zu haben.
Aus diesen Grundsätzen ergeben sich ebenfalls die konkretisierten Pflichten des Verwaltungsrates betreffend den Kapitalverlust und die Überschuldung gemäss Art. 725 OR. So ist der Verwaltungsrat verpflichtet, unmittelbar bei einer Feststellung eines drohenden Kapitalverlusts oder einer Überschuldung die nachfolgend aufgeführten Massnahmen einzuleiten.
Massnahmen beim Kapitalverlust
Der Verwaltungsrat hat nach Feststellung des Kapitalverlustes unverzüglich eine Generalversammlung (Sanierungsversammlung) einzuberufen und bei der Generalversammlung Sanierungsmassnahmen zu beantragen. Zur Vorbereitung der Sanierungsversammlung ist eine Verwaltungsratssitzung durchzuführen, an der die Ertrags- und Bilanzsituation, die vorzuschlagenden Sanierungsmassnahmen sowie die Generalversammlungstraktanden besprochen und festgelegt werden. Sollte der Verwaltungsrat zum Schluss kommen, dass die bereits eingeleiteten Sanierungsmassnahmen genügen und keine weiteren Sanierungsmassnahmen einzuleiten sind, ist dennoch eine Generalversammlung einzuberufen und gegenüber den Aktionären zu begründen, warum keine weiteren Massnahmen notwendig sind. Dasselbe gilt, wenn der Verwaltungsrat gleichzeitig das gesamte Aktionariat vertritt oder auch in Konzernverhältnissen.
Die Sanierungsversammlung ist grundsätzlich sofort einzuberufen, wobei eine gewisse Verzögerung zulässig ist, sofern für die Abklärung der Finanzlage oder zur Ausarbeitung von Sanierungsvorschlägen Zeit notwendig ist. Wichtig ist in einem solchen Fall, dass diese Entscheidung vom Verwaltungsrat getroffen und ordentlich protokolliert wird. Die bei einem Kapitalverlust notwendigen Sanierungsmassnahmen sind vielfältig und sollen die effektive Überwindung der Krise für das Unternehmen bezwecken. Oftmals werden hierfür Zuschüsse à fonds perdu, Rangrücktritte oder Forderungsverzichte als kurzfristige Massnahme gewählt. Langfristig müssen Unternehmen jedoch zudem die Einnahmen erhöhen (bspw. durch Bearbeitung eines neuen Marktes) und die Ausgaben senken (bspw. durch Entlassungen, günstigere Mieten). Sämtliche Sanierungsmassnahmen sind anhand der konkreten Situation steuerlich und rechtlich auf Eignung zu prüfen.
An der Sanierungsversammlung orientiert der Verwaltungsrat die Aktionäre über die aktuelle Vermögenslage, damit sie die entsprechenden Beschlüsse fassen können. Der Verwaltungsrat hat den Aktionären die Bilanz vorzulegen und zu erläutern. Die Berichterstattung muss den Aktionären einen umfassenden Einblick in und Auskunft über die aktuelle wirtschaftliche Situation und die bisher eingeleiteten Sanierungsmassnahmen sowie über Zukunftsperspektiven geben, soweit dies für die Ausübung der Aktionärsrechte erforderlich ist. Dies ermöglicht den Aktionären, ihre Meinung betreffend Liquidation, Sanierung oder Fortführung ohne Sanierung zu bilden. Wenn möglich sollten die Aktionäre vorgängig schriftlich über die Sanierungsnotwendigkeit und die angedachten Massnahmen orientiert werden.
Die Generalversammlung kann nur diejenigen Sanierungsmassnahmen beschliessen, die in ihrer Kompetenz liegen und damit insbesondere über eine Kapitalherabsetzung oder -erhöhung sowie eine Liquidation. Sie ist grundsätzlich frei, die Vorschläge des Verwaltungsrates zurückzuweisen, abzuändern oder im Rahmen der Traktandierung andere Sanierungsmassnahmen oder eine Sonderprüfung zu beschliessen. Werden an der Sanierungsversammlung keine konkreten Sanierungsmassnahmen beschlossen, hat der Verwaltungsrat die Aktionäre auf die Konsequenzen und Risiken eines Konkurses hinzuweisen, wobei dies den Verwaltungsrat nicht von weiteren Sanierungsmassnahmen (oder einer Liquidation) entbindet.
Pflichten bei einer Überschuldung
Die Handlungspflichten des Verwaltungsrates bestehen nicht erst bei einer offensichtlichen Überschuldung, sondern bereits, wenn er begründete Besorgnis hat, dass eine Überschuldung vorliegt.
Ob eine solche begründete Besorgnis vorliegt, ist im Einzelfall anhand der wirtschaftlichen und finanziellen Lage und der Eigenkapitalbasis zu beurteilen. Zumindest bei einer schmalen Eigenkapitalausstattung oder einem bestehenden Verlustvortrag hat der Verwaltungsrat die finanzielle Situation der Gesellschaft fortlaufend genau zu überwachen und zu prüfen, ob eine begründete Besorgnis für eine Überschuldung besteht.
Soweit der Verwaltungsrat begründete Besorgnis hat, dass eine Überschuldung vorliegen könnte, so ist er verpflichtet, eine Zwischenbilanz zu Fortführungswerten zu erstellen und diese einem zugelassenen Revisor zur Prüfung vorzulegen.
Wenn die Zwischenbilanz zu Fortführungswerten eine Überschuldung ergibt, muss der Verwaltungsrat eine Zwischenbilanz zu Veräusserungswerten erstellen. Sollte die Zwischenbilanz zu Fortführungs- und zu Veräusserungswerten eine Überschuldung der Gesellschaft zeigen, so hat der Verwaltungsrat die Pflicht, die Überschuldung unverzüglich dem Konkursrichter anzuzeigen («Bilanzdeponierung»). Es ist hierbei empfehlenswert, dass der Verwaltungsrat einen ordentlich protokollierten Beschluss fällt, die Überschuldung dem Richter anzuzeigen.
Der Verwaltungsrat kann von einer Benachrichtigung des Richters absehen, wenn entweder ein rechtsgültiger Rangrücktritt im Ausmass der Unterdeckung vorliegt oder falls konkrete Aussichten auf eine Sanierung bestehen. Wird auf eine Benachrichtigung des Richters verzichtet, so ist zwingend ein entsprechender, protokollierter Verwaltungsratsbeschluss zu treffen. In diesem ist einerseits festzuhalten, dass eine Überschuldung besteht, und andererseits, dass auf eine Benachrichtigung des Richters verzichtet wurde sowie die Gründe hierfür.
Folgen bei einer Verletzung der Pflichten
Sollte der Verwaltungsrat seinen Pflichten zur Oberleitung der Gesellschaft sowie zur Überwachung der finanziellen Lage nicht nachkommen und sich die Konkursanzeige somit verspäten bzw. die Schulden der Gesellschaft sich weiter erhöhen, können die Gläubiger der Gesellschaft direkt den Verwaltungsrat für ihren Schaden (Konkursverschleppungsschaden) belangen. Der Verwaltungsrat haftet sodann mit seinem gesamten persönlichen Vermögen. Sollte der Verwaltungsrat das Wissen und die Fähigkeit zur Überwachung der aktuellen finanziellen Lage nicht haben, so ist er verpflichtet, sich dieses Wissen bzw. diese Fähigkeiten extern einzuholen und sich entsprechend beraten zu lassen.
Wichtig bleibt, dass der Verwaltungsrat sämtliche Beschlüsse sowie das Vorgehen bespricht und ordentlich protokolliert. Sollte im Rahmen einer Verantwortlichkeitsklage die Frage nach einer Konkursverschleppung oder anderweitigen Haftung des Verwaltungsrates aufkommen, so wird üblicherweise durch das Gericht das Prinzip der «Business-Judgment-Rule» angewendet. Dies besagt insbesondere, dass das überprüfende Gericht sich bei der Überprüfung eines Verwaltungsratsentscheides Zurückhaltung auferlegt, wenn dieser in einem einwandfreien, auf einer angemessenen Informationsbasis beruhenden und von Interessenskonflikt freien Entscheidungsprozess zustande gekommen ist.
Fazit
Die Pflichten des Verwaltungsrates im Falle eines Kapitalverlustes bzw. einer Sanierung sind vielfältig. Die Mitglieder des Verwaltungsrates sind dazu angehalten, die finanzielle Lage der Gesellschaft stetig zu überwachen und die notwendigen Massnahmen rechtzeitig zu ergreifen, um damit die Gläubiger sowie die Aktionäre und letztlich sich selbst zu schützen.