London / Brüssel – Im Wettlauf gegen die Zeit versucht Grossbritannien, einen ungeregelten Brexit in zehn Tagen abzuwenden. Nach weiteren ergebnislosen Voten im Unterhaus rief Premierministerin Theresa May ihr Kabinett am Dienstag zu einer Krisensitzung zusammen. Die Gefahr eines Brexits ohne Vertrag wachse von Tag zu Tag, warnte EU-Unterhändler Michel Barnier in Brüssel. Doch gebe es immer noch Auswege, wenn das Unterhaus den Austrittsvertrag billige.
Das britische Parlament hat den von May mit der Europäischen Union vereinbarten Trennungsvertrag bereits drei Mal abgelehnt. Am Montagabend fanden aber auch vier andere Brexit-Varianten keine Mehrheit. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte, die Abstimmungen hätten eine Lösung nicht nähergebracht. «Wir erwarten jetzt die Entscheidungen der britischen Regierung», fügte Juncker in Rom hinzu.
Gibt es keinen Konsens, bleiben zwei Möglichkeiten: ein chaotischer Austritt am 12. April oder eine lange Verschiebung mit einer Teilnahme Grossbritanniens an der Europawahl Ende Mai. Barnier warb jedoch für eine dritte Variante: Sollte das Unterhaus den Austrittsvertrag in den nächsten Tagen doch noch annehmen, könnte der für kommende Woche geplante EU-Sondergipfel eine kurze Verschiebung beschliessen, die noch vor der Wahl endet, die vom 23. bis zum 26. Mai läuft.
Zu dem Abkommen gebe es ohnehin keine Alternative: «Wenn Grossbritannien die EU immer noch auf geordnete Art und Weise verlassen will, ist und bleibt diese Vereinbarung die einzige», sagte Barnier. «Der einzige Weg, einen No-Deal zu vermeiden, wird ein positives Votum sein.»
Vierte Abstimmung über Mays Brexit-Deal?
In London gilt als wahrscheinlich, dass May das Abkommen diese Woche den Abgeordneten noch ein viertes Mal zur Abstimmung vorlegt. So hatte es Brexit-Minister Stephen Barclay am Montagabend nach den ergebnislosen Abstimmungen angedeutet.
Da Abgeordnete von Mays Konservativer Partei, ihres parlamentarischen Partners DUP und der Opposition bisher aus ganz unterschiedlichen Gründen dagegen sind, könnten Zugeständnisse vielleicht doch noch eine Zustimmung sichern. Die Forderung nach einem Verbleib in einer Zollunion mit der EU verfehlte am Montagabend nur ganz knapp eine Mehrheit.
Barnier stellte klar, dass eine Zollunion für die EU akzeptabel wäre und die Politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen praktisch sofort geändert werden könnte. Allerdings lasse diese Erklärung auch in jetziger Form alle Türen offen, falls Grossbritannien eine engere Beziehung wünsche – auch die Teilnahme am Binnenmarkt.
Die entscheidende Hürde ist aus Sicht Barniers, dass der Austrittsvertrag abgesegnet wird, der auf knapp 600 Seiten alle Trennungsfragen regelt. Diese Fragen würden auch bei einem No-Deal vor jeglichen Gesprächen über künftige Beziehungen geklärt werden müssen, vor allem die finanziellen Verpflichtungen Grossbritanniens, die Rechte der EU-Bürger auf der Insel und die Garantie einer offenen Grenze zwischen Irland und Nordirland.
Marathon-Sitzung in 10 Downing Street
Mays Kabinett beriet am Dienstagvormittag in London. Angesetzt war eine Marathon-Sitzung bis in den Nachmittag hinein in verschiedener Besetzung. Das Parlament plant für Mittwoch eine weitere Abstimmungsrunde über Alternativen zu Mays Brexit-Deal. Möglicherweise könnte das Unterhaus versuchen, die Regierung zu einer weiteren Verlängerung der Austrittsfrist zu zwingen.
Barnier betonte allerdings, dass es für eine lange Verschiebung eine gute Begründung brauche: einen «neuen politischen Prozess», ein weiteres Brexit-Referendum oder eine Neuwahl in Grossbritannien. In keinem Fall werde während der Fristverlängerung erneut über das Austrittsabkommen verhandelt oder bereits ein Vertrag über die künftigen Beziehungen geschlossen.
Die EU-Partner sind angesichts der Blockade in London zunehmend entnervt. Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt in Paris: «Die jüngsten Ereignisse, vor allem die gestrige Abstimmung im britischen Parlament, bringen uns in gefährlicher Weise einem Brexit ohne Abkommen näher.» In Paris empfängt am Dienstag der französische Präsident Emmanuel Macron den irischen Regierungschef Leo Varadkar, vor allem wegen der heiklen Grenzfrage.
Die EU will die Grenze zwischen ihrem Mitglied Irland und dem britischen Nordirland unbedingt offenhalten, um neue politische Spannungen in der ehemaligen Bürgerkriegsregion zu vermeiden. Allerdings müsste es zum Schutz des Binnenmarkts wohl Kontrollen geben, bekräftigte auch Barnier. Wie dies im Fall eines No-Deal gelöst werden soll, liess er bewusst offen. (awp/mc/ps)