Keine Angst vor dem bösen Wolf? – aber wie lange noch?
Paris – Die Inflation klettert auf seit Jahrzehnten nicht erreichte Höhen. Die US-Notenbank (Fed) beginnt mit einer der stärksten geldpolitischen Straffungen ihrer Geschichte. In Osteuropa wütet der Krieg. Öl wird mit deutlich über 100 Dollar pro Barrel gehandelt. Dennoch zeigt sich der Aktienmarkt erstaunlich gelassen, insbesondere in den USA. Der S&P 500 ist nur noch 5,5 % von seinen historischen Höchstständen vom vergangenen Dezember entfernt, als er in weniger als zwei Wochen über 8 % zugelegt hatte. Irrationaler Überschwang oder ein Zeichen dafür, dass die Anleger nach und nach die neuen geldpolitischen Gegebenheiten berücksichtigen, ohne ihre Positionierung grundlegend infrage zu stellen?
von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE
Ambivalenzen im historischen Rückblick auf die Märkte
Angesichts der jüngsten Entwicklungen könnte man geneigt sein, sich der zweiten Hypothese anzuschliessen und an eine Fortsetzung der Rally zu glauben. Denn in früheren Phasen der geldpolitischen Straffung haben sich die Märkte tendenziell vor allem zu Beginn sehr gut entwickelt. Der S&P 500 legte beispielsweise bei der Straffung im Jahr 1988 in den 18 Monaten nach der ersten Zinsanhebung um 33 % zu; bei den Straffungszyklen von 1994, 2004 und 2015 waren es 19 %, 10 % bzw. 17 %.
Blickt man etwas weiter zurück, sieht die Sache jedoch anders aus: In den Straffungsphasen der 1970er- und frühen 1980er-Jahre ging es an den Aktienmärkten kaum aufwärts, was allerdings eher den Ölkrisen und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen als allein der Geldpolitik geschuldet war. Interessanter ist die geldpolitische Straffung von 1986–1987. Sie führte zum Crash vom Oktober 1987, dem berühmten „schwarzen Montag“, als die Indizes in nur wenigen Tagen um fast 30 % einbrachen. Dabei wurde das Ausmass des Einbruchs durch ein technisches Phänomen im Zusammenhang mit sogenannten Portfolio-Versicherungen noch verschlimmert. Ein Umfeld, das durchaus Ähnlichkeiten mit der heutigen Situation erkennen lässt: solides Wirtschaftswachstum, hohe Inflation, ein Anstieg der Zinssätze und dann der Leitzinsen und dazu noch Aktienmärkte, an denen sich aufgrund der hohen Bewertungen nach der äusserst kräftigen Rally eine Blase bildet.
Die heutige Situation ist anders – doch ist Vorsicht geboten
Die heutige Situation unterscheidet sich ganz sicher in vielerlei Hinsicht sehr stark von den „schmerzfreien“ geldpolitischen Straffungen der vergangenen Jahrzehnte. Die Inflation liegt auf ihrem höchsten Niveau seit 40 Jahren. Der S&P 500 hat zwar seit seinen Höchstständen vom Sommer 2021 etwas nachgegeben, liegt aber immer noch 20 % über seinem langfristigen Median und über dem durchschnittlichen Niveau von vor den drei letzten Straffungszyklen. Zudem wird die Fed einen beispiellos restriktiven Kurs einschlagen. Bisher erfolgte das Anziehen der geldpolitischen Zügel im Wesentlichen durch ein Anheben der Leitzinsen in mehr oder weniger schnellen Schritten. Doch seit der Krise von 2008 und angesichts der Bedeutung, die der quantitativen Lockerung – also den Anleihekaufprogrammen – mittlerweile zukommt, beinhaltet eine Straffung nun auch Massnahmen in Bezug auf die Zentralbank-Bilanz. Dies erfolgt zunächst in Form der Einstellung der Anleihekäufe und dann in Form der Bilanzverkürzung. Beträge aus fällig werdenden Anleihen werden dann nicht mehr reinvestiert, d. h. theoretisch werden Nettoverkäufe von Anleihen getätigt. Da die Märkte in hohem Masse von der mithilfe der quantitativen Lockerung bereitgestellten Liquidität abhängig sind, wird sie die Beendigung der Programme umso härter treffen.
Vor diesem Hintergrund wirft die derzeitige Stärke der Aktienmärkte – insbesondere die des US-Marktes – Fragen auf. Unserer Ansicht nach sollte man hier äusserst vorsichtig vorgehen, auch wenn bei den teuersten Aktien bereits eine Korrektur stattgefunden hat. Die Börsenweisheit „Don‘t fight the Fed“ hat sich in den letzten Jahren als äusserst passend erwiesen, und Anleger wären gut beraten, sie zu beherzigen. (LFDE/mc)