Keine Partystimmung zum Brexit
London – Schritt für Schritt rückt der Brexit näher. Am Donnerstag haben die 27 bleibenden EU-Staaten der Ratifizierung des Austrittsabkommens mit Grossbritannien zugestimmt. In der Nacht zum Samstag wird das Land die Europäische Union endgültig verlassen. Doch der Streit um den Brexit ist damit noch nicht beendet. London und Brüssel steht noch ein schwerer Weg bevor.
Erst jetzt können die Gespräche über die künftigen Beziehungen beginnen. In einer elfmonatigen Frist soll geklärt werden, wie es ab 2021 im Handel und auf anderen Feldern weitergeht. Kritiker halten den Zeitraum für viel zu kurz – neue Konflikte drohen. «Bis Ende 2020 werden wir nicht alle Bereiche im Detail regeln können», warnte der deutsche Aussenminister Heiko Maas im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Gefahr eines Brexit-Abgrunds zum Jahresende ist nicht vom Tisch.
Johnson will Brexit-Gegner nicht vor den Kopf stossen
Der historische Moment am späten Freitagabend (23 Uhr britische Zeit, 24 Uhr MEZ) wird in London nur mit schmalem Programm begangen. Man wolle die Brexit-Gegner nicht vor den Kopf stossen, begründete das Premierminister Boris Johnson. Nur eine Lightshow, Union-Jack-Fahnen und eine Rede des Premiers sollen den historischen Moment begleiten. Kein Feuerwerk, nicht einmal das Londoner Wahrzeichen Big Ben soll läuten. Ob Johnson die Spaltung der britischen Gesellschaft damit überwinden kann, ist zweifelhaft. Jüngsten Umfragen zufolge sind noch immer 53 Prozent der Briten für einen Verbleib in der EU und 47 Prozent für den Austritt.
Souveränität wichtiger als reibungsloser Handel
Seine Verhandlungsziele für die künftigen Beziehungen will der Premier britischen Medien zufolge nächste Woche vorstellen. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, will er laut «Telegraph» in seiner Rede betonen. Der Bruch zwischen London und Brüssel soll viel klarer ausfallen als unter Johnsons Vorgängerin Theresa May geplant. Er will sein Land von der Anbindung an EU-Regeln frei machen und die Verbindungen weitgehend kappen.
EU will enge Anbindung an EU-Standards
Die EU-Kommission fordert indes eine möglichst enge Anbindung an EU-Standards. Unfaire Subventionen sowie Sozial- oder Umweltdumping dürfe es nicht geben, fordert auch Maas. Davon soll abhängen, wie weit Grossbritannien Zugang zum Binnenmarkt bekommt. Die Kommission will nächsten Montag ihrerseits die Verhandlungslinie vorschlagen, die dann noch von den 27 bleibenden Staaten gebilligt werden muss. Ende Februar oder Anfang März geht es dann wirklich an den Verhandlungstisch. Dort haben beide Seiten nach dem Austrittsantrag 2017 schon mehr als zwei Jahre um den Scheidungsvertrag gerungen.
Epischer Machtkampf
Auf britischer Seite war schon der Weg zu diesem Austrittsabkommen enorm steinig. «Brexit bedeutet Brexit», befand die frühere Premierministerin Theresa May. Doch was Brexit bedeuten sollte, wusste eigentlich niemand genau. Der Kampf um die Deutungshoheit wurde zu einem epischen Machtkampf zwischen den Staatsgewalten: Parlament gegen Regierung. Auch vor den Gerichten wurde der Streit ausgetragen. In erster Linie ging es darum, einen ungeregelten No-Deal-Brexit zu verhindern – doch auch der Deal der Premierministerin wurde immer wieder abgeschmettert. Am Ende musste May unverrichteter Dinge gehen. Johnson hatte mehr Erfolg. Nun kommt die Trennung nach fast 50 Jahren tatsächlich.
Ein zerrissenes Königreich
Zentraler Punkt im Austrittsvertrag ist eine Übergangsfrist bis zum Jahresende, in der sich im Alltag fast nichts ändert. Grossbritannien bleibt in der Zeit im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Doch gibt es kein Anschlussabkommen, drohen erhebliche Handelshemmnisse.
Neben der Klärung der künftigen Beziehungen zur EU hat Johnson noch ganz andere Sorgen: Grossbritannien ist zerrissen. Vor allem in Schottland, aber auch in den Landesteilen Wales und Nordirland wächst die Wut auf die Regierung und das Streben nach Unabhängigkeit.
Abschiedsfeiern in Brüssel
Die EU verliert mit dem Brexit ihre zweitgrösste Wirtschaftsmacht und ihren viertgrössten Beitragszahler. Mit den Briten verabschiedet sich ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und eine schlagkräftige Militär- und Nuklearmacht aus dem Kreis der EU-Staaten. In Brüssel überwiegt der Trennungsschmerz. Für Donnerstag waren auf dem Grand Place in Brüssel und im Europaviertel Abschiedsfeiern geplant.
Die SPD-Europaabgeordnete Katarina Barley sagte der Deutschen Presse-Agentur, sie werde sich am Freitagabend entweder alleine verkriechen – oder mit Gleichgesinnten trauern. Zuvor wollte sie noch nach London reisen: «Ich werde entweder mit britischen Verwandten und Freunden mich betrinken … Darf man das sagen? Ich werde auf jeden Fall echt trauern.» Barleys Vater ist Brite, die Mutter Deutsche. (awp/mc/pg)