Kommentar zur Bilanz-Saison

Kommentar zur Bilanz-Saison

Oliver Fiechter, Finanz 3.0 AG

Von Oliver Fiechter, Finanz 3.0 AG

Bilanzielle Gewinne, operative Verluste, ausserordentliche Abschreiber und Rückstellungen in Millionenhöhe: Die Halbjahreszahlen der börsenkotierten Unternehmen werden publiziert. Finanzanalysten und Wirtschaftsjournalisten beugen sich über Statistiken, interpretieren Fussnoten, ziehen Vergleiche zu Vorjahresergebnissen und wagen weitreichende Prognosen. Das Laienpublikum hält wacker mit. Wie bei Fussballtrainern wird darauf gewettet, wer Manager des Jahres und wer als nächster gefeuert wird. Und wie beim Fussball wissen wir alle, wie man es besser gemacht hätte. Wirtschaft ist zu einem Volkssport geworden.

Woher rührt die gesellschaftliche Breitenwirkung von Finanzzahlen? Unser pseudoreligiösen Verhältnis zum Geld spielt eine zentrale Rolle. Börsenboom und Immobilienblasen haben in uns den Glauben daran geweckt, dass unser Schicksal von der durchschnittlichen P/E-Ratio einer Aktie und unser Wohlstand von der ersten Stelle nach dem Komma der BIP-Wachstumszahlen abhängig geworden ist. Effizienz ist der Königsweg zur Erlösung geworden. Wer nicht mit immer weniger immer mehr leistet, dem drohen Fegfeuer und ewige Verdammnis. Die Qualität einer wirtschaftlichen, aber auch sozialen, politischen oder kulturellen Tätigkeit wird gerne gleichgestellt mit der Höhe des daraus erzielten Geldgewinnes. Die Frage, ob etwas Geld bringt oder nicht, ist die Ultima Ratio unserer Gesellschaft.

«Wohlstand für alle durch wirtschaftliches Wachstum»
1789 legte der schottische Philosoph und Nationalökonom Adam Smith mit «Wohlstand der Nationen» den Grundstein für die klassische Ökonomie. Sein Verständnis der Volkswirtschaft beruhte auf den drei Produktionsfaktoren «Boden, Arbeit, Kapital». In dieser Zeit entstand auch der bis heute gültige Wachstumsimperativ, der längst nicht nur unsere Wirtschaft, sondern auch alle unsere Institutionen und Megasysteme wie das Recht, die Wissenschaft, die Politik durchdrungen hat. «Wohlstand für alle durch wirtschaftliches Wachstum» wurde zur Maxime des westlichen Wirtschaftsliberalismus. Dabei werden die Grenzen dieses Wachstums immer offensichtlicher. Es ist unvorstellbar, dass zehn Milliarden Menschen sich den gleichen Energieverbrauch leisten können, wie dies der westliche Mittelstandsbürger es heute tut. Der Planet Erde hat dafür erstens zu wenig Rohstoffe und zweitens würde sein Ökosystem es nicht verkraften, wenn sie alle gleichzeitig verbraucht würden. Optimisten glauben trotzdem, dass der freie Markt und technischer Fortschritt Wachstum in einer qualitativ höheren Form möglich machen werden. Doch die nüchternen Stimmen, die die Endlichkeit der Ressourcen und die Notwendigkeit einer neuen Wirtschaftsordnung unterstreichen, werden immer lauter.

Von der Mangel- zur Überflussgesellschaft
Adam Smith monumentales Werk hat die erste industrielle Revolution eingeleitet. Inzwischen spricht man bereits von der dritten, manche gar von der fünften industriellen Revolution. Heute geht es nicht mehr darum, mit Dampfkraft Textilmaschinen und Lokomotiven anzutreiben und mit der Druckerpresse die Massen zum Lesen und Schreiben zu erziehen. Im digitalen Zeitalter stehen wir vor der Herausforderung, wie wir unseren Energiehunger aus nachhaltigen Quellen stillen und wie wir vernünftig mit Facebook, Twitter und Google umgehen können. Dazu kommt ein struktureller Wandel, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden kann: Wir leben nicht mehr in einer Mangel-, sondern in einer Überflussgesellschaft. Diese Ökonomie wird von eine ganz anderen Logik beherrscht, einer Logik, die wir erst langsam zu begreifen beginnen.

Viel Zeit wird uns allerdings nicht bleiben. Spätestens seit dem Kollaps von Lehman im Herbst 2008 sind die Grenzen der herrschenden Wirtschaftsordnung klar geworden. Hoch verschuldete Staaten können ihre Sozialleistungen nicht mehr aufrecht erhalten; nicht minder verschuldete Privathaushalte müssen ihre Konsum einschränken. Dass dabei die Einkommen des Mittelstandes in vielen Ländern auf breiter Front sinken, hilft nicht wirklich. Ob Griechenland, Portugal oder Spanien, ob Ägypten, Türkei oder Brasilien – soziale Unruhen sind alltäglich und die nächste Revolution eine Frage der Zeit geworden. Hinter den einzelnen Unruhen mögen im Detail völlig verschieden Ursachen stecken. Eine grosse Klammer vereint sie alle: Den Menschen wird immer mehr klar, dass es in einer begrenzten Welt kein grenzenloses Wachstum geben kann.

Ernsthafte öffentliche Diskussion über die Qualität des Wachstums
So gesehen hat die Obsession mit Halbjahres- und Quartalszahlen etwas Lächerliches. Es kann nicht mehr darum gehen, ob Unternehmen A die Erwartungen der Analysten erfüllt, übertroffen und enttäuscht hat; und es ist irrelevant geworden, ob sich die Ebitda-Marge von Unternehmen B um 0,5 Prozent verbessert oder um 2,7 Prozent verschlechtert hat. Was wir brauche, ist eine ernsthafte öffentliche Diskussion über die Qualität des Wachstums und die Logik einer neuen Wirtschaftsordnung. Und wir brauchen diese Diskussion jetzt.

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