Zürich – Aufwendig bestickte Textilien aus der Negev-Wüste lassen sich ab Ende November im Völkerkundemuseum der Universität Zürich bewundern. Die fünfte und letzte Ausstellung der Werkstatt-Reihe thematisiert die unterschiedlichen, herkunfts- und kontextabhängigen Sichtweisen auf die farbenprächtigen beduinischen Stickarbeiten.
Ein Tisch mit Stühlen, daneben in einer Vitrine ein Beutel mit Garn und Werkzeugen: Sie bilden das Zentrum der neuen Ausstellung «Werkstücke?» im Völkerkundemuseum Zürich und laden ein zu Reflexion und Austausch – über die gezeigten Sammlungsstücke, aber auch über die verschiedenen Kontexte, in denen sie betrachtet, genutzt und gedeutet werden.
Bei den ausgestellten Objekten handelt es sich um Textilien aus der Negev-Wüste: Bunte, mit geometrischen Mustern bestickte Frauengewänder, einzelne Kleidungsteile, Tücher und Taschen, angefertigt von Beduinen-Frauen, angekauft vom Völkerkundemuseum in den 1980er- und 1990er-Jahren.
Kontext beeinflusst die Sichtweise
Kuratiert hat die Ausstellung Saada Elabed, Doktorandin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft. Sie nahm ihre eigene Doppelrolle als Ethnologin und Nachfahrin der stickenden Beduininnen als Ausgangspunkt, um verschiedenen Perspektiven auf die präsentierten Textilien in der Ausstellung auszuloten. Was sieht eine Stickerin in den Objekten? Was bedeuten sie für eine Ethnologin oder eine Stickerei-Expertin? Was verbinden heutige Angehörige der beduinischen Urhebergesellschaft damit? Und was geschieht, wenn die Perspektiven verknüpft werden?
Videosequenzen sowie eine Reihe von Zitaten in deutscher, englischer und arabischer Sprache spiegeln diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Stickereien: Die 80-jährige Beduinin kommt ebenso zu Wort wie die 33-jährige Studentin aus Shqeb as-Salam, die Textilrestauratorin des Völkerkundemuseums oder dessen Direktorin. Augenfällig dabei: Alle befragten Personen sehen in den Textilien etwas anderes. Mal wird die freie Kreuzstichtechnik analysiert, mal werden Kindheitserinnerungen wach, abhängig von der jeweiligen Herkunft und Lebensrealität.
Persönlicher Bezug zur Sammlung
Auch die eigene Beziehung zur Sammlung lässt Kuratorin Saada Elabed einfliessen, von ihr stammen unter anderem die grossformatig präsentierten Fotos der Negev-Wüste: «Als visuelle Anthropologin arbeite ich grundsätzlich mit der eigenen Wahrnehmung, mit der ich sehe, höre, rieche, schmecke. Das sind die ‹Rohdaten›, die mir zur Verfügung stehen. Als ich die Stickereien zum ersten Mal im Museumsdepot sichtete und ihren Geruch einatmete, sah ich unwillkürlich meine Grossmutter vor mir.» Elabeds Vater kam in den 1980er Jahren aus der Negev-Wüste in die Schweiz; ihre Verwandtschaft väterlicherseits lebt nach wie vor in der Region.
Die Phase kurz vor der Ausstellungeröffnung war vom aufflammenden Nahostkrieg überschattet. Unklar war etwa, ob die Werke von Zenab Garbia in der Ausstellung gezeigt werden können. Die Künstlerin und Tante der Kuratorin setzt sich in ihren Keramikarbeiten mit der beduinischen Stickerei auseinander und verhandelt dabei zum Beispiel Gender-Themen: In einem mit Stickereien verzierten Kaffeekrug trifft so eine traditionell weibliche Tätigkeit, das Sticken, auf die männliche Sphäre des Kaffeekochens.
Zusätzliche Perspektiven erweitern den Bedeutungshorizont
«Werkstücke?», der Titel der Ausstellung, bezieht sich so einerseits auf die handgefertigten und zum Teil noch unfertigen Unikate. Andererseits versteht sich die Ausstellung selbst als nicht abgeschlossene Erkundung, als «work in progress». Sie zeigt keine fertigen Forschungsergebnisse, sondern öffnet gezielt auch den Raum für Perspektiven, die bisher nicht oder nur marginal einbezogen wurden, beispielsweise die Sichtweise von Personen der Diaspora, die oft weder ganz als Mitglied der Ankunftsgesellschaft noch als Teil der Urhebergesellschaft wahrgenommen und deswegen übersehen werden. Neue Erkenntnisse, die sich so während der Laufzeit ergeben, sollen wo immer möglich in die Ausstellung integriert werden. Auch die Besucherinnen und Besucher sind dazu eingeladen, ihren Standpunkt zu reflektieren und persönliche Gedanken und Eindrücke zu den Stickereien festzuhalten. Auf dem Tisch im Zentrum des Raums liegen dafür Papier und Stifte bereit. (Universität Zürich/mc/ps)