London – Im Machtkampf um den Brexit hat sich Premier Boris Johnson dem britischen Parlament gebeugt und bei der EU eine Fristverlängerung bis Ende Januar beantragt. Doch verband Johnson dies am Wochenende mit der Ansage, den EU-Austritt trotzdem am 31. Oktober durchzuziehen. Schon am Montag könnte er den Brexit-Vertrag erneut dem Unterhaus vorlegen. Die EU wartet gespannt. Solange sondiert Ratschef Donald Tusk, ob die EU-Staaten noch einmal Aufschub gewähren. Die Chancen stehen gut, wenn es nötig wird.
Ein Chaos-Brexit in eineinhalb Wochen mit all seinen wirtschaftlichen Turbulenzen wird damit unwahrscheinlicher. Der britische Staatsminister Michael Gove drohte zwar am Sonntag erneut damit und sagte auf Sky News, die Gefahr sei gestiegen. Doch stemmt sich eine Mehrheit im Unterhaus dagegen. Auch die Europäische Union hat kein Interesse daran, wie Diplomaten in Brüssel am Sonntag bekräftigten.
Johnsons Briefe…
Am Samstag hatten sich die Ereignisse überschlagen. Das Unterhaus sollte eigentlich über Johnsons gerade mit der EU nachverhandelten Brexit-Deal befinden, vertagte diese Entscheidung aber. Damit war Johnson gesetzlich gezwungen, eine Bitte um Fristverlängerung bis 31. Januar nach Brüssel zu schicken. Er schrieb jedoch zusätzlich in einem Brief an Tusk, er selbst wolle keine Verzögerung und setze auf eine Ratifizierung des Vertrags in den nächsten Tagen.
Verwirrung in Brüssel
In Brüssel zeigten sich Diplomaten perplex über die verworrene Lage in London. Dennoch kamen am Sonntagvormittag wie geplant die EU-Botschafter mit Unterhändler Michel Barnier zusammen und stiessen formal das Ratifizierungsverfahren auf EU-Seite an. Denn nicht nur das britische Parlament muss den Vertrag annehmen, sondern auch das EU-Parlament. Theoretisch könnte dies am Donnerstag in Strassburg geschehen. Die Spitzen des EU-Parlaments befassen sich am Montag mit dem Fahrplan.
Über die mögliche Fristverlängerung für London sprachen die EU-Botschafter nach Angaben von Diplomaten nicht. Das obliegt Tusk und den Staats- und Regierungschefs. Denkbar wäre ein EU-Sondergipfel, wenn die Ratifizierung nicht in den nächsten Tagen gelingt. Notfalls könnte auch schriftlich entschieden werden.
Aufschub möglich
Es gilt als wahrscheinlich, dass die 27 bleibenden Staaten nötigenfalls noch einmal einen Aufschub gewähren. «Wenn eine Verlängerung (der Brexit-Frist) um ein paar Wochen nötig ist, hätte ich damit kein Problem», sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier der «Bild»-Zeitung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron liess zwar erklären: «Eine weitere Verzögerung ist im Interesse von niemandem.» Über den britischen Antrag wollte er sich aber noch nicht äussern.
Der aktuellste Hebel des Parlaments
Ziel der Vertagung im britischen Unterhaus am Samstag war, einen EU-Austritt ohne Vertrag auszuschliessen. Denn es herrschte Sorge, das Brexit-Abkommen könnte nicht mehr rechtzeitig vor dem Austritt ratifiziert werden. Oder die Abgeordneten hätten jede Vorlage der Regierung durchwinken müssen, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Mit dem laufenden Antrag auf Verlängerung hat das Unterhaus nun wieder einen Hebel in der Hand.
Johnson hat im Parlament keine eigene Mehrheit und ist für die Ratifizierung des Brexit-Deals auf Stimmen der Opposition angewiesen. Die Spitze der Labour-Partei ist jedoch offiziell gegen den Deal. Und mehrere Oppositionspolitiker kritisierten Johnsons Verhalten scharf. «Er benimmt sich ein bisschen wie ein verzogener Rotzbengel», sagte Schattenkanzler John McDonnell von der Labour-Partei am Sonntag auf Sky News. Die frühere Tory-Abgeordnete Anna Soubry, die eine Gruppe proeuropäischer ehemaliger Tory- und Labourabgeordneter anführt, verglich den Premier mit einem «aufsässigen Kind».
Aussenminister Dominic Raab sieht dennoch Chancen für den Deal. Es scheine ausreichend Unterstützung im Unterhaus vorhanden zu sein, sagte Raab der BBC. Ob die Abgeordneten schon an diesem Montag im Unterhaus über den Deal abstimmen, wird Parlamentspräsident John Bercow nachmittags (gegen 16.30 Uhr MESZ) bekanntgeben, wie eine Sprecherin des Unterhauses der Deutschen Presse-Agentur sagte.
Geänderter Austrittsvertrag
Johnson hatte vor wenigen Tagen nach langem Streit mit der EU einen geänderten Austrittsvertrag vereinbart, der sofort von den EU-Staats- und Regierungschefs gebilligt wurde. Neu geklärt wurde die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland auch nach dem Brexit offen bleiben kann. Zudem vereinbarte Johnson mit Brüssel in einer politischen Erklärung, dass es auf längere Sicht nur eine lose Bindung seines Landes an die EU geben soll. Eine frühere Fassung des Pakets war im Unterhaus drei Mal durchgefallen.
Während im Parlament die Debatte tobte, demonstrierten in der Nähe zahlreiche Brexit-Gegner. Die Veranstalter des «People’s Vote»-Protestmarsches sprachen von Hunderttausenden Teilnehmern. Ein Referendum 2016 hatte eine knappe Mehrheit für den EU-Austritt ergeben. Der Brexit war im Frühjahr schon zweimal verschoben worden. (awp/mc/pg)