Marktausblick BlackRock: Gipfel des Zinserhöhungstempos in Sichtweite…

Marktausblick BlackRock: Gipfel des Zinserhöhungstempos in Sichtweite…
Ann-Katrin Petersen, BlackRock Senior-Kapitalmarktstrategin. (Bild: BlackRock)

Es bleiben zwei unangenehme Erwartungen, die Anleger im Jahresendspurt 2022 begleiten. Erstens: Die Rezession kommt. Die Aussichten für die Weltkonjunktur haben sich weiter eingetrübt. Zweitens: Die Inflation bleibt, selbst wenn die Energiepreise, auch dank staatlicher Interventionen, im Jahr 2023 kaum noch einmal so kräftig anziehen dürften wie in diesem Jahr. Im Euroraum markierte die Teuerung im Oktober laut einer ersten Schätzung erstmals zweistellige Niveaus. Der unterliegende Preisdruck hat sich verstetigt und verbreitert.

von Ann-Katrin Petersen, BlackRock Senior-Kapitalmarktstrategin

Die Gretchenfrage jedoch, die sich Marktteilnehmer aktuell stellen, lautet vielmehr, ob die Notenbanken allmählich den Fuss vom zinspolitischen Bremspedal lösen. So hat der Zinsentscheid der Europäischen Zentralbank (EZB) am vergangenen Donnerstag Spekulationen um ein langsameres Leitzinserhöhungstempo im Euroraum befeuert. Dies verlieh, schwelenden Konjunktur- und Inflationssorgen zum Trotz, der nun seit rund zwei Wochen andauernden Erholungsbewegung bei Aktien und Obligationen zusätzlichen Rückenwind.

An den Kapitalmärkten scheinen wir also auf den ersten Blick weitestgehend eine Replik dessen zu erleben, was bereits in den Sommermonaten zu beobachten gewesen war: eine „Zentralbankwenderallye“. Die zwischenzeitliche Euphorie im Sommer, die beispielsweise den deutschen Leitindex DAX zeitweise um mehr als 10% nach oben trieb, erwies sich seinerzeit als deutlich verfrüht. Denn die geldpolitische Normalisierung steckte noch in den Kinderschuhen, während der wieder bzw. weiter zunehmende Aufwärtsdruck bei den Kerninflationsraten den Zentralbanken keine Beinfreiheit liess, um auch nur im Ansatz an ein gemächlicheres Tempo der geldpolitischen Straffung denken zu können.

Bei ihrem vorletzten Entscheid in diesem Jahr erhöhte die EZB wie erwartet alle drei Leitzinsen zum zweiten Mal um jeweils 75 Basispunkte. In kürzester Zeit hat die EZB versucht, im Rekordtempo so viele Straffungsschritte wie möglich unterzubekommen („Frontloading“). Seit Juli wurden die Leitzinsen um insgesamt 200 Basispunkte gestrafft. Gleichzeitig bekräftigte die EZB, dass nach wie vor mit weiteren Zinserhöhungen zu rechnen sei, wobei die Währungshüter fortgesetzt datenabhängig und „von Sitzung zu Sitzung“ ihren geldpolitischen Kurs anpassen würden. Ergo: Ein weiterer grosser Zinsschritt im Dezember ist noch nicht vom Tisch. Doch liessen sich der offiziellen Erklärung und den Verlautbarungen von EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Rahmen der Pressekonferenz durchaus erste Signale herauslesen, dass das Zinserhöhungstempo von nun an verlangsamt erfolgen könnte.

So hätten die Währungshüter bereits „beträchtliche Fortschritte“ bei der geldpolitischen Normalisierung erzielt. Mit anderen Worten nähert sich der Einlagensatz von aktuell 1,5% einem Leitzinsniveau, dass von den Notenbankern als „neutral“ erachtet wird, ab dem die Konjunktur also nicht mehr angekurbelt, sondern gebremst wird. Auf der Pressekonferenz betonte Präsidentin Lagarde ausserdem mehrfach die zeitliche Verzögerung zwischen den geldpolitischen Entscheidungen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaftsaktivität, und wies auf die gestiegenen Rezessionsgefahren hin.

Auch mit Blick auf den am Mittwoch anstehenden Zinsentscheid der US-Notenbank Fed dürften Marktbeobachter nach Signalen für ein nachlassendes Straffungstempo Ausschau halten. Während eine vierte Zinserhöhung um 75 Basispunkteauf einen Leitzinskorridor von 3,75% bis 4,00 % an den Rentenmärkten ausgemachte Sache zu sein scheint, waren die Erwartungen in Bezug auf die „Peak Rate“, den Hochpunkt im US-Zinserhöhungszykus zuletzt rückläufig.

… jedoch nicht gipfelnde Leitzinsniveaus
Die Hoffnungen der Märkte auf geldpolitischen Rückenwind könnten abermals verfrüht sein. Zumindest ist ein möglicherweise gedrosseltes Zinsanhebungstempo weder zu verwechseln mit einer Unterbrechung des geldpolitischen Straffungszyklus, noch gar mit der Aussicht auf eine Leitzinssenkung. Solange der Fuss grundsätzlich auf der zinspolitischen Bremse bleibt, ist der Gipfel der Leitzinsniveaus noch nicht erklommen. Zudem rückt mit Blick auf das Jahr 2023 im Euroraum eine Normalisierung der EZB-Bilanzpolitik, d.h. die Verknappung der bereitgestellten Zentralbankliquidität, in den Fokus. Noch reinvestiert das Eurosystem im Gegensatz zur Fed, die ihre Zentralbankbilanzsumme bereits abschmelzen lässt, jeden Rückfluss aus fällig werdenden Obligationen im Rahmen ihrer Anleiheankaufprogramme.

Für den kurzfristigen Konjunkturausblick spielt eine potenzielle Verlangsamung der Zinserhöhungen aus unserer Sicht keine massgebliche Rolle. Gerade in Deutschland und Europa scheint die Frage weniger zu lauten, ob es angesichts des massiven Energieschocks im Winterhalbjahr zu einem wirtschaftlichen Abschwung kommt – wichtige Konjunkturindikatoren signalisieren, dass dies höchstwahrscheinlich bereits der Fall ist – sondern wie ausgeprägt dieser Konjunktureinbruch ausfallen wird. Trotz der jüngsten Entspannung am Gasmarkt ist es noch zu früh, bei der Gasversorgung der Bundesrepublik Entwarnung zu geben. Nach Einschätzung von Experten müssten dafür der Verbrauch weiter gesenkt (etwa um ein Fünftel), die Nettoimporte hoch gehalten und die geplanten LNG-Terminals schnellstmöglich in Betrieb genommen werden. Nicht zuletzt befinden sich die derzeitigen EZB-Leitzinsen bereits nahe Niveaus, die die Konjunktur bremsen. Auch wenn Präsidentin Lagarde in der Pressekonferenz auf die höhere Wahrscheinlichkeit einer Rezession hinwies, scheint die EZB bereit zu sein, die Zinssätze weiter zu erhöhen, bis der Konjunkturabschwung spürbarer wird.

Gleichzeitig gab die EZB zwar keine konkreten Entscheidungen über ein Abschmelzen der Bilanzsumme bzw. „Quantitative Tightening“ bekannt. Nicht ausgeschlossen jedoch, dass sich der „Policy-Mix“ der EZB im Laufe der Zeit von der Zins- auf die Bilanzpolitik verlagert, wobei gegen Ende des Jahres eine Diskussion über ein „Tapering“ der Reinvestitionen aus dem PSPP-Anleihekaufprogramm ansteht. In einem ersten Schritt gab der EZB-Rat in bilanzpolitischer Hinsicht Änderungen der Zinssätze für seine gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLTRO III) bekannt, und dass für die von Kreditinstituten gehaltenen Mindestreserven der Einlagensatz und nicht der Refinanzierungssatz gelten werde. Ziel dieser Massnahmen bestehe darin, Collateral freizusetzen und die Liquidität zu schmälern, so Lagarde.

Gegen einen zeitnahen „Pivot“ der Fed spricht nicht zuletzt, dass der enge US-amerikanische Arbeitsmarkt bislang wenig Spielraum für eine geldpolitische Kursanpassung eröffnet. In den USA kommen auf jeden Jobsuchenden derzeit immer noch rund 2 offene Stellen (1,7 um genau zu sein). In manchen Bundesstaaten liegt das Verhältnis sogar bei 3:1. Der Dreimonatsdurchschnitt der neu geschaffenen Stellen ausserhalb der Landwirtschaft notiert weit über der Marke von 100.000, die, so die Einschätzung von Fed-Beobachtern, das Niveau markiert, welches die Fed vor einem „Pivot“ maximal sehen will. In Europa zeigt der Arbeitsmarkt weniger Überhitzungserscheinungen, aber auch hierzulande deuten sich hohe Lohnzuwächse ab.

Was bedeutet all dies für Anlageentscheidungen?
Die kurzfristigen Aussichten für die Weltwirtschaft haben sich unter dem Eindruck hartnäckiger Lieferunterbrechungen, des massiven Anstiegs der Verbraucherpreise, strafferer Finanzierungsbedingungen und schwelender Unsicherheit eingetrübt. Das Thema Inflation wird nicht gänzlich verschwinden, selbst wenn die Gesamtinflationsraten auf absehbare Zeit ihren Gipfel erreichen. Die Zentralbanken haben Wirtschaft und Märkte vor diesem Hintergrund auf eine fortgesetzte Straffung der Geldpolitik eingeschworen.

Für das fundamentale Rückgrat der Börsen, die Umsatz- und Gewinnzahlen der Unternehmen sowie die Ausblicke der Firmenchefs, birgt dieses gesamtwirtschaftliche Umfeld unseres Erachtens weiteres Abwärtsrevisionspotenzial. Die Erwartungen enttäuschende Unternehmenszahlen, wie in der letzten Woche teils im Technologie-Bereich zu beobachten, werden in der aktuellen Gemengelage mit Kursabschlägen abgestraft. Dies zeigt, dass die zuletzt günstigeren, zukunftsorientierten Bewertungen der Aktienmärkte verwundbar bleiben, es sei denn Anleger können fundamental auf widerstandsfähige Gewinne aufbauen. Es scheint allerdings noch mit einem Fragezeichen behaftet, inwiefern bereits der Berichtszyklus für das dritte Quartal 2022 in der Breite die antizipierte Abschwächung des Gewinnwachstums widerspiegeln wird.

Langsamere Leitzinserhöhungen können Zwischenerholungen auf den Aktienmärkten auslösen. In der kürzeren Frist bleiben die Aussicht auf eine fortgesetzte Straffung der Zinspolitik und das restriktiver werdende Liquiditätsumfeld allerdings für die Märkte Belastungsfaktoren. Für einen nachhaltigen Aufwärtstrend müssten die Zentralbanken ein Ende ihrer Leitzinserhöhungen signalisieren. Trotz der kernigen Verlautbarungen im Hinblick auf ein zügiges Eindämmen der Inflation in Richtung der Zielmarken von 2% werden sich die Währungshüter wohl letztendlich mit etwas mehr davon abfinden. All dies spricht unseres Erachtens für eine fortgesetzt hohe Volatilität und Rückschlagpotenzial an den Aktienmärkten und legt taktisch weiterhin eine vorsichtige Grundhaltung nahe. Wir bevorzugen mit Blick auf die kommenden sechs bis zwölf Monate nach wie vor Unternehmensobligationen hoher Bonität (Investment Grade) angesichts relativ attraktiverer Bewertungen bei wetterfesteren Bilanzen.

Weiterhin gilt aus unserer Sicht auch, dass das klassische „Rezessions-Handbuch“ bei der Anlageallokation im aktuellen Umfeld nur bedingt Anwendung finden sollte. Dies bedeutet unter anderem: Sich in Staatsobligationen „zu verstecken“, bleibt wenig ratsam. Vielmehr dürften Staatsobligationen in einem Umfeld erhöhter Inflationsrisiken und Staatsschuldenberge aus ganzheitlicher Portfolioperspektive fortgesetzt Diversifikationseigenschaften einbüssen. Attraktivere Chancen ergeben sich bei kürzeren Laufzeiten und inflationsgeschützten Staatsobligationen. (BlackRock/mc)

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