London – Nach der Schlappe der regierenden Konservativen bei der Kommunalwahl in Grossbritannien kommt wieder Bewegung in die festgefahrene Brexit-Debatte. Premierministerin Theresa May hat den Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn zu einem schnellen Kompromiss beim Brexit aufgerufen.
«Die Wähler erwarten von uns, dass wir das Ergebnis des Referendums umsetzen», schrieb May in einem Gastbeitrag für die «Mail on Sunday». Die Öffentlichkeit sei frustriert über Verzögerungen beim EU-Austritt. Laut einem Bericht der «Sunday Times» wäre May unter anderem zu einem vorläufigen Verbleib in einer Zollunion bereit.
Eigentlich hätte Grossbritannien die EU bereits Ende März verlassen sollen. Die Frist wurde bis zum 31. Oktober verlängert, nachdem May dreimal im Parlament mit ihrem Austrittsabkommen gescheitert war. Die Frage, ob die Briten in einer Zollunion mit der EU bleiben sollen, um Kontrollen an der irisch-nordirischen Grenze vorzubeugen, war dabei umstritten. An diesem Dienstag will die britische Regierung ihre Brexit-Gespräche mit der Opposition fortsetzen.
Wahlschlappe für die Tories
Bei den Kommunalwahlen am Donnerstag in Nordirland und grossen Teilen Englands hatten die Konservativen im Vergleich zu vor vier Jahren 1335 von 4000 Sitzen sowie die Mehrheit in 45 Gemeinderäten verloren. Die Labour-Partei büsste 86 Sitze ein. Klare Gewinner waren die EU-freundlichen Liberaldemokraten mit 704 zusätzlichen Sitzen sowie die Grünen. Die in den Umfragen zur Europawahl starke neue Brexit-Partei durfte noch nicht an den Kommunalwahlen teilnehmen.
May sieht den Wählerauftrag darin, schnellstmöglich zu einer Einigung über den EU-Austritt zu gelangen. Laut «Sunday Times» wäre sie bereit, Grossbritannien bis zur Parlamentswahl 2022 in einer Zollunion mit der EU zu halten. Zudem könne sie EU-Regulierungen beim Warenverkehr weitgehend akzeptieren und zugestehen, die Arbeitnehmerrechte der EU in britisches Recht zu übernehmen. Nach der Wahl könne dann das neue Parlament entscheiden, wie es weitergeht.
Ein Tory-Labour-Kompromiss für einen schnellen EU-Austritt könnte aber auf beiden Seiten zu innerparteilichen Konflikten führen. Konservative Brexit-Hardliner stellen sich klar gegen einen Verbleib in der Zollunion. Ein Grossteil der Labour-Partei strebt dagegen ein zweites Referendum an – mit der Option eines Verbleibs in der EU.
Oppositionsabgeordnete pochen auf zweites Referendum
Mehr als 100 Oppositionsabgeordnete von Labour, der schottischen SNP, der walisischen Plaid Cymru sowie der neuen EU-freundlichen Partei Change UK und der Grünen sprachen sich laut einem Bericht des «Observer» in einem Brief gegen eine Brexit-Einigung ohne ein zweites Referendum aus. Das schlechteste Vorgehen zu diesem Zeitpunkt wäre eine «interne Einigung in Westminster» (im Regierungsviertel), warnten die Abgeordneten. Damit würden sowohl die Brexit-Befürworter als auch dessen Gegner vor den Kopf gestossen. Die Wähler müssten in einen zweiten Referendum «das letzte Wort» dazu haben.
Anders sieht das der konservative Euroskeptiker und May-Kritiker Jacob Rees-Mogg. Im «Daily Telegraph» (Samstag) forderte er einen klaren Kurs raus aus der EU. Die Konservativen müssten zur «wahren Brexit-Partei» werden, um ihr Überleben zu sichern. Dazu brauche es auch «eine neue Führung», argumentierte der Abgeordnete, der May wiederholt zum Rücktritt aufgerufen hatte.
Experten bezweifeln, dass die Verluste der beiden grossen Parteien auf den mangelnden Fortschritt beim Brexit zurückgehen. Schliesslich seien die grössten Gewinner der Kommunalwahl die Liberaldemokraten, die sich klar gegen einen britischen EU-Austritt ausgesprochen haben.
Der Chef der Liberaldemokraten, Vince Cable, erwartet bei der Europa-Wahl in Grossbritannien am 23. Mai einen weiteren Erfolg seiner Partei, wenn das Land planmässig teilnimmt. «Wir sind ganz klar eine bedeutende Kraft, wir sind ganz klar die führende Partei für den Verbleib (in der EU)», sagte Cable der BBC am Samstag.
Der EU-Kommissar Günther Oettinger wandte sich derweil gegen den Eindruck, in der EU drehe sich alles nur noch um den Brexit. «Tatsächlich aber beschäftigt der Brexit die Kommission etwa eine Stunde pro Woche», sagte Oettinger dem «Tagesspiegel am Sonntag». Sonst gehe es um Themen wie die Vermeidung eines Handelskriegs mit den USA, den künftigen Haushaltsrahmen oder die aussenpolitische Lage.
Zur voraussichtlichen Teilnahme der Briten an der EU-Wahl sagte Oettinger: «Niemand weiss, ob die Briten nicht vielleicht noch viel länger dabei sind.» Das vom EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ins Gespräch gebrachte Ende 2020 «wäre durchaus ein sinnvolles Austrittsdatum». Dann ende der aktuelle Finanzrahmen der EU. (awp/mc/ps)