London – Die britische Regierung sucht nach der überraschenden Ablehnung einer erneuten Abstimmung über ihren Brexit-Deal durch Parlamentspräsident John Bercow nach einem Ausweg aus der Sackgasse. Auch die Europäische Union erwartet dringend eine klare Linie aus London, wie sie am Dienstag deutlich machen.
«Wir sind nun noch genau zehn Tage vom Rückzug Grossbritanniens aus der Europäischen Union entfernt», sagte ein Sprecher von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Man beobachte die Ereignisse im britischen Unterhaus genau, könne sie aber weder kommentieren noch beeinflussen. Es sei nun an der britischen Regierung, über die nächsten Schritte zu entscheiden und sie rasch der EU mitzuteilen, sagte der Sprecher.
Keine weitere Brexit-Abstimmung ohne substanzielle Änderungen
Parlamentspräsident Bercow hatte am Montag deutlich gemacht, dass das bereits zwei Mal vom Unterhaus abgelehnte Brexit-Vertragspaket den Abgeordneten nur mit substanziellen Änderungen ein weiteres Mal vorgelegt werden darf. Was genau damit gemeint ist, war aber zunächst unklar.
Bereits am Donnerstag wird May mit anderen Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel in Brüssel erwartet. Sie wollte dann eine Verlängerung der Austrittsfrist beantragen, die am 29. März eigentlich endet. Das hatte das Parlament vergangene Woche beschlossen.
May hatte dem Parlament eine kurze Verlängerung bis Ende Juni in Aussicht gestellt, für den Fall, dass der Deal vorher noch angenommen wird. Sollte er abgelehnt werden, warnte sie vor einer langen Verzögerung.
Doch eine Abstimmung über den Deal vor dem EU-Gipfel scheint nun kaum noch möglich. Spekuliert wird daher, May könne einen langen Aufschub beantragen mit der Option, abzukürzen, sollte sie doch noch eine Mehrheit im Parlament bekommen. Eine Verschiebung des Brexits muss von den EU-Staats- und Regierungschefs einstimmig beschlossen werden.
Berlin fordert klaren Plan
Die deutsche Bundesregierung will einer Brexit-Verschiebung nur zustimmen, wenn Grossbritannien einen klaren Plan für das weitere Vorgehen vorlegt. «Ich kann nur noch einmal an unsere britischen Partner in London appellieren, jetzt endlich einen konkreten Vorschlag zu machen, warum man überhaupt eine Verlängerung anstrebt», sagte Europastaatsminister Michael Roth (SPD) am Dienstag am Rande von EU-Beratungen in Brüssel. «Eine Verlängerung ohne entsprechende klare Bedingungen wird es aus unserer Sicht nicht geben können.»
Offen liess Roth allerdings, wie die Bundesregierung die Linie durchsetzen will. Deutschland will nämlich wie viele andere EU-Länder auch zugleich einen Brexit ohne Austrittsabkommen verhindern. «Das wäre wirklich der schlimmste Fall für die Menschen in Grossbritannien, aber auch für die EU der 27», sagte Roth zu dem Szenario eines «No Deal».
Wenn die EU-Staaten einem britischen Antrag auf Verschiebung des Austrittsdatums nicht einstimmig zustimmen, könnte es am 29. März zu einem ungeregelten Brexit kommen. An diesem Tag endet die im EU-Vertrag vorgesehene Zwei-Jahres-Frist für den britischen Austritt. Ein ungeregelter Brexit kann demnach nur noch gestoppt werden, wenn das Austrittsgesuch zurückgezogen oder ein Antrag auf eine Fristverlängerung eingereicht wird.
Ähnlich wie Roth äusserte sich auch die französische Europaministerin Nathalie Loiseau. «Wenn das Vereinigte Königreich einen Aufschub will, muss es sagen warum», sagte sie. Die Briten müssten eine «glaubwürdige Initiative» präsentieren und sagen, wie sie aus der Sackgasse herauskommen wollen (…).»
Loiseau spielte damit noch einmal darauf an, dass die britische Premierministerin Theresa May zuletzt zweimal erfolglos versucht hatte, das von ihr mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen durchs Parlament zu bekommen. Zugleich sprachen sich die Abgeordneten aber mehrheitlich gegen einen Ausstieg ohne Abkommen aus.
Shitstorm über Bercow
Bercow steht wegen der Anwendung der 415 Jahre alten Regel stark in der Kritik. Die konservative Zeitung «Daily Express» nannte ihn am Dienstag auf der Titelseite einen «Brexit-Zerstörer». Bercows Entscheidung sei «völlig unwillkommen» und schüre Angst. Bercows politische Eitelkeit sei eine «Abrissbirne im wichtigsten politischen Prozess seit Jahrzehnten».
Das konservative Blatt «Daily Mail» sprach von einem «Akt der Sabotage». Der Parlamentspräsident habe «Anti-Brexit-Vorurteile» , schrieb die Zeitung weiter. Auch die konservative Boulevardzeitung «The Sun» kritisierte sein Vorgehen scharf und schrieb: «Bercow kann uns mal» auf der Titelseite. Der Parlamentspräsident steht schon lange im Clinch mit der Boulevardpresse, die für den Brexit trommelt. (awp/mc/ps)