Meret Schneider: Achtsamkeit und der einfache Weg der ironischen Distanz

Meret Schneider: Achtsamkeit und der einfache Weg der ironischen Distanz
Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Es gibt diese Worte, die derart inflationär verwendet werden oder wurden, dass man sie kaum mehr aussprechen mag. In unserer beschleunigten und vom Imperativ der Selbstoptimierung durchdrungenen Lebenswelt sind dies Begriffe wie “Resilienz”, “Selbstfürsorge” oder auch, und viel strapaziert, “Achtsamkeit”. Ob im Orell Füssli im Ratgeberregal, auf Instagram oder in Frauenzeitschriften: Achtsamkeit wird kultiviert, praktiziert und dient als Gefäss für all die Meditationstechniken, Schaumbäder oder Waldbadekurse, die gerade an die Frau und zunehmend auch den Mann gebracht werden wollen.

Wann immer ich einen Zug verpasse und dabei in einer Bahnhofsbücherei schmökere oder mir auf Facebook Werbeposts von Wellnessoasen mit Infinitypools primär das achtsame Geld ausgeben näher bringen möchten, lächle ich süffisant und erhebe mich mit dem ironischen Blick der Durchschauenden über die simplen Versprechungen, die mit Achtsamkeitspraktiken und -gadgets einhergehen und Geist und vor allem auch das Portemonnaie entlasten.

Entsprechend erfreut las ich denn auch ein Interview mit dem Soziologen Jacob Schmidt in der NZZ, der exakt diese Achtsamkeit kritisierte und sie als eine stark gezuckerte Pille für die überforderten Arbeitstiere unserer Beschleunigungsgesellschaft bezeichnete. Es folgen weitere Schlagworte und eloquente Umschreibungen des Phänomens, das von ihm primär als Hype entlarvt und auch als nicht unproblematisch beschrieben wird. Achtsamkeit verspricht laut Jacob Schmidt denn auch: Du musst nur achtsam genug sein, dann gelingt dein Leben. Du brauchst nur das richtige «Mindset», dann wirst du nicht nur gelassen und resilient, sondern auch gesünder, glücklicher und erfolgreicher. Aber was, wenn du trotzdem überfordert bleibst oder sich der Erfolg nicht einstellt? Dann warst du eben nicht achtsam genug. Dein Versagen.

Ich fühlte mich beim Lesen des Artikels in meiner bereits bestehenden Haltung zur Achtsamkeit derart bestätigt, dass ich mein zustimmendes Kopfnicken – achtsam, wie ich bin – richtiggehend von aussen beobachten konnte und jedes im Artikel erwähnte Beispiel innerlich mit Applaus bedachte. Aber wie so oft, wenn ich bei einer Lektüre so gar keine kognitive Dissonanz verspüre und sie mir die Zustimmung und unreflektierte Aneignung der vorgetragenen Haltung allzu einfach macht, werde ich skeptisch.

Klar, ein jede Kulturtechnik, ob jene der Achtsamkeit, der Meditation, der Selbstreflektion oder der Mindfulness (von der man ebenfalls alles und nichts zu erwarten hat), kann, wenn sie moralisch überfrachtet und mit Bedeutung überladen wird, der mit ihr verbundenen Erwartung nicht gerecht werden. Klar, es bietet sich an, ob Soziologe oder nicht, auf ein derartiges Phänomen mit dem analytischen Blick des Distanzierten zu schauen, ohne sich mit dem tatsächlichen Erleben beim Praktizieren auseinanderzusetzen; zu Mainstream, zu Hype, zu wenig einer ernsthaften Auseinandersetzung würdig.

Auch ich bin diesen ausgetretenen Pfad der ironischen Distanz bisher stets gegangen, habe süffisant über Achtsamkeitsliteratur und Anleitungen, sich selber und die Umgebung einmal wieder richtig zu spüren und wahrzunehmen gelächelt und mich in der Position der Post-Achtsamen, Reflektierten gewähnt. Und doch muss ich gestehen: es macht etwas mit mir, wie Markus Lanz es formulieren würde. Gerade aktuell befinde ich mich in meiner absoluten Lieblingszeit des Jahres: Der Bergzeit. Wie jedes Jahr bin ich in Savognin, durchstreife die Alpen, besuche die diversen Waldlichtungen, die liebgewonnenen Gipfel und natürlich mein Herzensort Alp Flix, zu dem es mich immer wieder zieht wie die Honigbiene zur Wildblume. Und tatsächlich praktiziere ich dabei, und dies ganz bewusst, immer wieder Achtsamkeitsübungen, die ich im ein oder anderen Buch, Podcast oder (ja!) tatsächlich auch Facebookpost gelesen oder gehört habe.

Innehalten und bei der Rast die Schuhe ausziehen und ins Gras hineinspüren. Geräusche ganz bewusst wahrnehmen und überlegen, welchem Tier oder welcher Pflanze im Zusammenspiel mit dem Wind sie wohl entstammen. Ein Holzstück in die Hand nehmen und ganz bewusst die Rinde, die Wärme und die gleichzeitige Härte und Flexibilität spüren. Ich mache all dies nicht, um einen bestimmten Zustand zu erreichen, eine Erkenntnis zu gewinnen und “zu mir” zu finden, aber es macht etwas mit mir, auch wenn mein ironisch distanziertes Ich skeptisch schmunzelnd auf mein Holz-Abtasten blickt. Ich habe absolut keinen Anspruch an diese Tätigkeiten, keine Erwartungen oder Effektivitätshoffnungen, und doch komme ich von sämtlichen dieser Wanderungen und Touren mit wunderbar klarem, erholtem und entspannten Geist zurück, in einem in mir ruhenden Zustand, den ich im effizienzgetriebenen Alltag von mir so gar nicht kenne. Und bereits die Tatsache, dass ich die Worte “Geist” und “in mir ruhend” nutze, lässt mein ironisch distanziertes Ich spöttisch die Mundwinkel heben. Aber das ist ok.

Es gibt ausserhalb der Bergzeit jede Menge Platz für kühle Analysen und nüchterne Betrachtungen – diese Zeit in den Bergen gehört aber gerade ganz mir und ich nehme mir vor, den Blick für diese Achtsamkeit im Alltag auch im Flachland etwas mehr zu schärfen. Und auch genau dieses Wort zu nutzen: Achtsamkeit. Denn eigentlich passt es ganz gut.


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