Meret Schneider: Alltagsfetzen
Rübli, stand da. Brot, Erdbeeren, Joghurt (2 Mocca, 2 Vanille). Haushaltspapier, Couverts, Shampoo, in der Spalte daneben. Ich hatte den Zettel auf einem meiner “Cleanup-walks” aufgehoben, einem meiner Spaziergänge im Wald, bei denen ich aufhebe und entsorge, was nicht in den Wald gehört. Cleanup-walk heisse das, wurde ich von einer Bekannten kürzlich aufgeklärt, die mir im Wald mit meiner Tüte voll nicht verwesender Hinterlassenschaften begegnete und selber “Waldbaden” praktizierte, ein Waldspaziergang, ohne Tüte voller Plastik zwar, dafür mit Achtsamkeit. Aha.
Säuberlich untereinander, Food von Non-Food getrennt, ein Poschtizettel wie aus dem Bilderbuch, der mir Einblick in das Alltagsleben einer, wie ich vermutete, älteren Person bot und sofort ein Bild der Person (älter, männlich, verheiratet) und ihrem Umfeld (gebunden, gutbürgerlich, man hat erreicht, man ist zufrieden, Ambitionen waren mal) in meinem Kopf entstehen liess. Und erinnerte mich an die Familienposchtizettel meiner Kindheit und wie ich heute, wenn überhaupt, höchstens etwas in der Notizen-App meines Smartphones festhalte, wenn ich es keinesfalls vergessen will. Und dann wieder lösche oder zumindest der Ansicht bin, es gelöscht zu haben.
Bestimmt könnten die IT-Spezialistinnen beim Tatort, meist weibliche Personen, wahrscheinlich um Stereotypen zu durchbrechen, ein bisschen Gesellschaftskritik zwischen den Zeilen, das können sie ja beim Tatort, also bestimmt könnten diese Spezialistinnen meine Notizen und Daten sofort wieder herstellen, das Internet vergisst ja nicht. Die Digitalisierung hat mit all ihren Annehmlichkeiten und Vereinfachungen unseres Alltags auch Spuren in meinem Leben hinterlassen und dafür gesorgt, dass ich immer weniger Spuren hinterlasse, zumindest vermeintlich. Wo ich früher Notizzettel schrieb, Post-its, seitenlange Zusammenfassungen, Termine in meiner Agenda mit Leuchtstift markierte, steht heute die Cloud. Alles wird dort hinterlegt, notiert, säuberlich geordnet , einsortiert. Und wenn ein Brand mein Hab und Gut zerstören sollte, so gingen all diese flüchtig notierten Gedanken nicht in Flammen auf, sondern wären weiterhin auf jedem anderen Gerät abrufbar, nie wirklich gelöscht und doch erstaunlich unbeständig.
Ich bin keine dieser Unken, die die Konsequenzen der Digitalisierung in den schwärzesten Farben ausmalt und bei jedem neuen Gadget, das den Markt betritt, das Ende des Buches, der Papiergesellschaft oder der Haptik generell ausruft. Technologien aller Art interessieren mich; ich freue mich über neue technische Lösungen und verfolge die aktuelle Forschung in diesem Bereich mit unverhohlener Begeisterung. Doch brachte mich dieser Poschtizettel zum Nachdenken. Was hinterlassen wir als Gesellschaft in einer zunehmend digitalisierten Welt? Was graben Menschen tausende Jahre später aus, und was lernen sie dadurch von unserer Kultur, wenn Menschen in solch ferner Zukunft dies überhaupt noch tun (können)?
Dieser simple Poschtizettel erzählt uns so viel mehr über den Alltag, das Leben und die Gewohnheiten in unserer heutigen Gesellschaft, als es all die Daten in einer Cloud je können werden – nicht weil es ihnen an Vollständigkeit mangelt, sondern weil es zu ihrer Interpretation die entsprechenden Geräte braucht. Dieser Poschtizettel ist Alltagsgeschichte und das Speichermedium Papier, so scheinbar vergänglich, gehört doch zu den dauerhaftesten Medien überhaupt. Zumindest wenn man Herrn Prof. Dr. Robert Grass (ETH) Glauben schenkt. Ich werde wohl in Zukunft wieder mehr zu Papier bringen, nicht im übertragenen Sinne. Nicht, weil ich es für besonders überliefernswert hielte. Aber aus Freude daran, etwas zu schaffen, das bleibt, weil es interpretierbar bleibt. Die Interpretierbarkeit über Zeit ist schliesslich die Eigenschaft, die simple Zellulose der so unendlich viel potenteren Cloud voraus hat.
Meret Schneider, Eintrag bei Wikipedia
Meret Schneider, Eintrag auf der Parlamentsseite
Weitere Kolumnen von Meret Schneider
- Saisonal ist nicht egal
- Alle Jahre wieder
- No Digitainment, please!
- Verantwortung endet nicht an der Landesgrenze – und erst recht nicht im Parlament
- Chapeau Frau Challandes!
- Keine Agrarschlacht 2.0
- Kitas, Erwerbstätigkeit und der gute alte Thesenjournalismus
- Schlusslicht Schweiz dank Eigenverantwortung
- Zürichs Taubenschlägerei
- Regionale Raffinesse und der harte Boden der Realität
- Die dunkle Seite der Kokosnuss
- Ei, ei ein Jahr Verbot des Kükentötens
- Veganuary und die Mühlen des Kapitalismus
- Auf ein frohes neues Ja!
- (K)Ein Zielkonflikt mit Konfliktpotenzial
- Das Jahr geht zu Ende – lasst uns ranken!
- Festhalten an Fleischsubventionen
- Kein Schwein hat, wer Schweine hat
- Tierqual im Schatten der Stopfleber
- Ein Schultersch(l)uss ins eigene Bein?
- Froschschenkel mit Folgen
- Mehr Lächeln und Winken
- Espresso als Imperativ der Optimierungskultur
- Transparenz bei den Pflanzenpatenten – und beim Lobbyismus
- Oleo mio – das Öl in aller Munde