Meret Schneider: Blueberry Boom und die Geister, die wir riefen
Erinnert ihr euch an die Acai-Beeren? Die Goji-Beeren, Aroniabeeren und diverse andere exotischen Superfoods, die plötzlich aufgrund ihres hohen Gehalts an Antioxidantien und, meine These, aufgrund ihrer fotogen-violetten Farbe die Teller, Supermärkte und Instagram-Fotos fluteten? Keine Frühstücksbowl ohne obligaten lila Farbtupfer, kein Smoothie ohne Beerenzusatz und absurderweise findet sich in den hiesigen Supermärkten auch im Tiefkühlregal Acaipüree, das direkt in Smoothies oder Overnight Oats gerührt werden kann, ohne sich den dafür auch oft in Szene gesetzten Thermomix anschaffen zu müssen.
Ich ziehe den Hut vor dem Marketingmenschen, der für den Hype um Antioxidantien verantwortlich ist, denn besser könnte man eine gesundheitliche Wirkung nicht in Bilder packen. Antioxidantien bieten demnach Schutz gegen sogenannte «freie Radikale». Wenngleich ich bei freien Radikalen erst an den schwarzen Block oder vielleicht an eine Abspaltung der Jungfreisinnigen denken würde, so ist auch mir sogleich klar: gut ist das nicht.
Diese freien Radikale werden zum einen vom Körper selbst während verschiedener Stoffwechselprozesse gebildet, zum anderen entstehen sie durch schädliche äussere Einflüsse wie Zigarettenrauch, Umweltgifte oder UV-Strahlung der Sonne. Gibt es zu viele freie Radikale im Körper, entsteht sogenannter «oxidativer Stress». Dieser soll Krankheiten wie Arteriosklerose, Herz-Kreislauf Erkrankungen, Arthritis und Krebserkrankungen mitverursachen und die Haut schneller altern lassen. Also auf die Antioxidantien, fertig, los! Doch so einfach ist es wie so oft nicht.
Hinter dem Begriff Antioxidantien verbergen sich nämlich ganz simple Stoffe wie beispielsweise Vitamin C, E oder Betacarotin, die in Früchten und Gemüsen wie Karotten, Kirschen, Rotkohl, Randen und eigentlich den meisten saisonalen Gemüsesorten stecken und bei Überdosierung sogar negative Folgen haben. Kein Bedarf nach Acaii und Aronia also, objektiv betrachtet. Aber Hype ist Hype und wenn die Haferflöckli zur Zeit violett sein sollen, ist das eben so, dachte ich noch vor zwei Jahren.
Da die Antioxidantien prinzipiell in sämtlichen bläulich-lila- Beeren stecken, schlug ich in einem länger zurückliegenden Artikel vor, diese doch mit heimischen Alternativen zu ersetzen: Heidelbeeren und Blaubeeren statt Acai und Aronia, Leinsamen statt Chia und Spinat statt Spirulina. Warum nicht auf heimische Kulturen setzen und damit die Inlandsproduktion unterstützen und von umweltschädlichen Importen, die zudem ganze Landstriche trocken legen, wegzukommen? Ich war wohl nicht die einzige mit dieser Idee, denn eine Dokumentation der ARD belehrte mich eines Besseren.
Tatsächlich hat sich laut dem Branchen-Analysedienst Agrarmarkt Informations-Gesellschaft die Menge an Blaubeeren, die Verbraucher und Verbraucherinnen in Deutschland jährlich einkaufen, allein zwischen 2018 und 2021 verdoppelt und lag 2022/2023 bei rund 70.000 Tonnen – oder 800 Gramm pro Kopf. Das Problem: Die regionalen Anbauflächen wuchsen im gleichen Zeitraum (2018 bis 2023) nur um knapp 15 Prozent. Rund 15’300 Tonnen Heidelbeeren konnten deutsche Anbaubetriebe im Jahr 2023 ernten. Die logische Folge: Die Importe stiegen innerhalb von nur fünf Jahren auf über 60’000 Tonnen. Und wer wie ich bei Blaubeeren erst einmal an skandinavische Wälder, Ikeamöbel und irgendein Hygge Smörrebröd im schöner-Wohnen-Katalog denkt, liegt leider fatal falsch: Das wichtigste Exportland liegt nämlich viel weiter entfernt.
Es handelt sich dabei um Peru, wo laut offiziellen Zahlen auf 18’000 Hektar Blaubeeren angebaut werden, vornehmlich für den Export. Die Blaubeeren wachsen dabei mitten in einer peruanischen Wüstenlandschaft auf riesigen Feldern und sind auf künstliche Bewässerung angewiesen. Der grosse Teil des Wassers stammt – wir kennen das aus anderen Monokulturen – aus einem Fluss, der eigens umgeleitet wurde, um fruchtbares Farmland zu schaffen. Er wurde in den Anden aufgestaut, abgelenkt und fliesst nun zumindest teilweise statt nach Osten in Richtung Atlantik auf der anderen Seite der Anden in Richtung Westen, was ganze Landstriche trockenlegt und Kleinbauern östlich der Anden das dringend benötigte Wasser entzieht.
Es gilt nun also, was bereits für Avocados, Quinoa aus Südamerika und andere gehypte Lebensmittel galt: Dem Blaubeerboom fallen ganze Landstriche und Bevölkerungsgruppen zum Opfer, während wir violette Getränke und Bowls verspeisen, mit dem Unterschied, dass wir die Blaubeeren hierzulande zur Saison im Gegensatz zur Avocado tatsächlich problemlos geniessen könnten. Klar hat der Blaubeerboom mitnichten mit meinem damaligen Artikel zu tun, aber dass ich tatsächlich in das Blaubeeren-statt-Acai-Horn geblasen habe, liess mich bei der Doku doch leer schlucken. Doch was nun? Bitte keine Blaubeeren mehr essen? Starbucks zu einem Apfel- statt Blueberrymuffin motivieren? Einen Instagram-Account erstellen und den Karotten-Müesli-Hype kreieren, auf dass in ein paar Jahren die Arktis blank geföhnt wird, um dort oben Karotten anzubauen? Ich weiss es nicht. Und irgendwie kann ich nur den alten, weissen Mann in mir zu Wort kommen lassen und sagen: Können wir nicht einmal irgendetwas in normalem Ausmass machen? Ein paar Blaubeeren im Sommer, ein paar Zwetschgen im Herbst (auch violett, aber stooopp, nicht jetzt damit anfangen!) und im Winter halt Randen und Rotkohl?
Irgendwie fühle ich mich wie Hildegard von Bingen im Europapark, vielleicht bin ich einfach zu alt dafür oder wirklich reif für die Berge. Und genau das werde ich nun tun – ich verabschiede mich in die Alp- und Bergwelt und pflücke dort, im Mass und mit Blick auf die Flora, wilde Heidelbeeren fürs Birchermüesli. Habt einen wunderbaren Sommer!
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