Meret Schneider: Bourdieu und die Nepo Babies

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Wenn ein Phänomen in den sozialen Netzwerken zu mir durchdringt, ist es meist bereits popkulturell durchexerziert worden und keine wirklich neue Beobachtung mehr. Ich fürchte, auch bei folgendem Begriff handelt es sich um ein solches, doch hat mich die Beschäftigung damit mehr umtrieben, als ich erwartet hätte und liess mich bis zu diesem Text nicht mehr los.

Es handelt sich dabei um den Begriff “Nepo Babies” und den sozialmedialen Umgang damit. Der Begriff begegnete mir eher zufällig zum ersten Mal in einem Podcast und dann wiederkehrend in diversen Artikeln, in denen in fast schon aktivistischer Manier bestimmte Personen dazu aufgerufen wurden, sich dazu zu bekennen, ein “Nepo Baby” zu sein. Dass diese Personen zumeist weiblichen Geschlechts waren, kann dabei kaum als Zufall gewertet werden. In einem Artikel des “Stern” war zu lesen, dass unter «Nepo Babies» Menschen verstanden werden, die stark von Vetternwirtschaft (auch Nepotismus genannt) profitiert haben.

Dabei liegt das Augenmerk hauptsächlich auf Promi-Kindern, die sich eine Karriere im Model-, Musik- oder Schauspielbusiness aufgebaut haben, wobei Stein des Anstosses die Frage ist, ob diese Nepo Babies ihren grossen Erfolg auch ohne den Einfluss ihrer berühmten Eltern gefeiert hätten. Oft diskutierte Nepo Babies sind beispielsweise Lily Collins oder Dakota Johnson, denen immer wieder vorgeworfen wurde, ihre Karriere vornehmlich der berühmten Namen ihrer Eltern zu verdanken – auch viele weitere Exponentinnen dieser Branche werden in der Debatte immer wieder genannt. ​​So trug sicher auch das Cover des New York Magazines, das die Verwandtschaftsverhältnisse bekannter US-Stars genauestens unter die Lupe nahm, zur Diskussion über die Nepo Babies bei, indem auf der Titelseite Säuglinge abgebildet sind, auf die die Köpfe berühmter Nepo Babies montiert wurden. Dazu die Schlagzeile: “Sie hat die Augen ihrer Mutter. Und ihren Agenten.” Diese Aussage thematisiert genau, worum es geht: Kinder, die von Vetternwirtschaft und dem Erbe ihrer Eltern profitieren (auch wenn das auf Deutsch nicht so cool wie “Nepo Baby” klingt).

Was folgte, war gleichermassen positiv wie absurd zu beobachten: diverse sogenannter Nepo Babies begannen, zu ihren Privilegien qua Geburt zu stehen und “beichteten” quasi ihr Nepo Baby-Dasein oder aber sahen sich gedrängt, ihren Erfolg durch die eigene Leistung zu erklären und sich von ihren Eltern zu distanzieren. Erneut sei hier am Rande bemerkt, dass zumeist weibliche Schauspielerinnen und Models des “Nepo Baby”-Erfolges bezichtigt wurden und sich rechtfertigen mussten. Hatten diese jungen Frauen aufgrund berühmter Namen und massiver Reichweite auf Social Media ihrer Eltern grosse Startvorteile in diesem Business, in dem Reichweite eine so relevante Währung ist wie Bildung und Geld? Selbstverständlich. Ist das Phänomen neu? Selbstverständlich nicht.

Interessant wird es, wenn wir die mediale Diskussion über Nepo Babies unter dem Brennglas des nicht eben neuen Konzeptes des kulturellen Kapitals von Bourdieu betrachten. In der heutigen Gesellschaft spielt das Konzept des kulturellen Kapitals eine entscheidende Rolle bei der sozialen Mobilität und dem Erfolg eines Individuums.

Pierre Bourdieu, ein französischer Soziologe, prägte den Begriff des kulturellen Kapitals und untersuchte dessen Auswirkungen auf die soziale Struktur. Die Nepo Babies sind somit einfach eine weitere Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer familiären Verbindungen und ihres sozialen Hintergrunds privilegierte Positionen in der Gesellschaft einnehmen. Sie profitieren von einem hohen Mass an kulturellem Kapital, das ihnen von ihren Eltern vererbt wurde – im Gegensatz zu früher nicht nur von Bildung, Geld, Habitus und Gestus, sondern eben auch von der Stellung und Reichweite ihrer Eltern in den sozialen Medien. Bourdieu argumentiert, dass das kulturelle Kapital eine entscheidende Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit spielt. Das hohe Mass an kulturellem Kapital führt dazu, dass Nepo Babies oft in privilegierten Positionen landen, ohne die gleiche Anstrengung oder Leistung erbringen zu müssen wie andere. Sie können beispielsweise aufgrund ihrer familiären Verbindungen leichter Zugang zu begehrten Arbeitsplätzen oder Karrieremöglichkeiten erhalten, was zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheit und einer begrenzten sozialen Mobilität für Menschen ohne ähnliches kulturelles Kapital führt. All dies hat Bourdieu schon vor Jahren geschrieben und ist in der heutigen Art der Debatte schlicht alter Wein in neuen Schläuchen – was erstmal positiv gewertet werden könnte.

Eine wieder aufflammende Debatte über soziale Ungleichheit und fehlende soziale Mobilität, um Chancenungleichheit aufgrund der Herkunft und wie man dieser als Gesellschaft am Besten entgegenwirken könnte, wäre mehr als wünschenswert. Was jedoch resultiert, ist kein reflektierter Diskurs über eine gerechtere Verteilung des kulturellen Kapitals oder eine Gesellschaft, in der der Erfolg nicht mehr von familiären Verbindungen, sondern von individuellen Fähigkeiten und Leistungen abhängt, sondern ein sehr einseitiges Bashing junger, erfolgreicher Unternehmerinnen, Schauspielerinnen oder Models in den sozialen Medien. Interessanterweise wird dabei der junge Nachkomme eines erfolgreichen Unternehmers, der wie selbstverständlich mit 25 Jahren die Firma übernimmt, nicht thematisiert. Auch die ganze Erbthematik wird herzlich wenig beachtet und generell werden männliche Nepo Babies kaum in den Fokus genommen.

Ohne in irgendeiner Weise in Abrede stellen zu wollen, dass soziale Medien, Reichweite und berühmte Namen genauso Teil des kulturellen Kapitals sind und die Ausstattung damit qua Geburt mit Sicherheit zu sozialer Ungerechtigkeit führt, möchte ich doch zu Bedenken geben, in welcher Weise wir hier diskutieren. Und zur Reflexion anregen, ob es den Empörten hier tatsächlich um soziale Ungleichheit geht, oder eher um ein tendenziell misogynes Bashing erfolgreicher Frauen in einer Branche, die es einem leicht macht, erfolgreichen Individuen die Eigenleistung abzusprechen.


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