Im pittoresken Café in der Innenstadt, in dem ich auf meine Begleitung wartete, blätterte ich absichtslos in der Speise- und Getränkekarte, die einen gezielt handgemachten Eindruck erweckte. Neben Kaffeespezialitäten, die von einem Barista in an Handwerker erinnernder Schürze zubereitet wurden, fanden sich diverse Craft Biere, Homemade Burger und, zu meinem Erstaunen, der “Büezer-Znüni”.
Letzterer bestand aus einem Sandwich mit wählbarem Belag und einem Kaffee und erinnerte mich an das Restaurant im Dorf meiner Kindheit, in dem es bis 11:00 Uhr ein paar Wienerli mit Kaffee zum vergünstigten Preis gab, die tatsächlich primär von den einkehrenden Landschaftsgärtnern konsumiert wurden. Das Café bestach durch bewusst rough gehaltenes Mobiliar, grobe Tische und Stühle, handgeschriebene Tagesspezialitäten in Kreide auf Schiefer und einer verschnörkelten Schnörkellosigkeit, in der jedes Detail seinen Platz hatte und nichts dem Zufall überlassen wurde.
Während des Wartens beobachtete ich die Gäste und nicht nur die Preise auf der Karte liessen keine Zweifel aufkommen, dass sich hier kein Büezer hin verirren würde, sondern auch der Büezer Znüni teil der ganzen Working Class Hero-Ästhetik war, die dem Café innewohnte. Man trifft sich hier, mit und ohne Laptop, ist kreativ, schreibt, schafft Medien oder sitzt einfach nur da wie ich und beobachtet die Szenerie, die sich selber einen seltsam anbiedernden Arbeiter-Schick verpasst. Das Café war nur der Auslöser einer Beobachtung, die mir seit der Pandemie in immer anderer Ausprägung begegnete und mich als gesellschaftliches Phänomen seit längerem beschäftigt: es ist eine Faszination, eine Art Ästhetifizierung des Handwerks und der sogenannten Working Class.
Beginnend mit der Pandemie, in der uns die Systemrelevanz der Handwerks- und Pflegeberufe eindrücklich vor Augen geführt wurde, und wir Pflegekräfte zwar nicht besser bezahlen, wohl aber beklatschen mochten, weiter zu einer Situation, in der es an allen Ecken und Enden an Handwerkerinnen und Handwerkern mangelte und uns erstmals bewusst wurde, wie sehr der gesamte Gemüsebau von Erntehelferinnen und Erntehelfern abhängig war, bis zu den Familienvätern, die in Baumärkte pilgerten, um am Eigenheim zu werkeln oder endlich die lang ersehnte Sauna einzubauen: Handwerk, Pflege, Reinigungskräfte wurden kommunikativ hochstilisiert, wie es fulminanter nicht sein könnte.
Anerkennung wurde dem entgegengebracht, der “einen richtigen Beruf” gelernt hatte und möglichst um 07:30 Uhr auf dem Bau zu “malochen” begann, im Regen Spargel stach oder unsere Angehörigen gesund pflegte – wohlgemerkt kommunikative Anerkennung. Als Politikerin merke ich es im Wahljahr einmal mehr, wie sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier, wenn sie sich besonders volksnah inszenieren möchten, dies gern mit Verweis auf eine Tätigkeit auf dem eigenen Hof, mit Bezug auf eine klassische Arbeiterausbildung (in einem Beruf, den sie seit Jahren nicht mehr ausüben) oder zumindest auf ein “einfaches Elternhaus” tun. Studiert und eine akademische Laufbahn eingeschlagen zu haben, verkommt nahezu zum Schimpfwort; der ideale Politiker ist Büezer oder zumindest Bauer, auf jeden Fall mit Draht zum Volk und den sogenannten “kleinen Leuten”.
Soweit die Ästhetik, soweit die Kommunikation. Während meines Studiums und darüber hinaus bis heute habe ich immer wieder in einer Bäckerei und in der Gastronomie gearbeitet, zwischenzeitlich auch im Obstbau und diesen Alltag sehr eindrücklich erlebt. Mit der romantisierten Vorstellung des “einfachen Arbeiters”, der einen anstrengenden, aber “ehrlichen” Beruf hat und abends müde, dafür zufrieden ins Bett fällt, hat dieser Alltag bis auf die abendliche Müdigkeit wenig zu tun. Und bevor ich missverstanden werde: ich liebe die Arbeit in der Gastronomie – aber auch deshalb, weil es ein Ausgleich zum Nationalratsmandat war und ich finanziell nie darauf angewiesen war. Denn damit sind wir beim Punkt, um den es mir geht und weswegen mich die Hochstilisierung der Arbeitskraft, des Handwerks und der “ehrlichen Berufe” so abstösst: es handelt sich dabei zumeist um eine feuilletonistische Kapriole ohne realpolitische Konsequenzen.
In einer Situation, in der es an Pflegekräften, Handwerkerinnen und Gastropersonal mangelt, ist tatsächlich der Kaufkraftverlust in den letzten Jahren in diesen Berufen mit Abstand am grössten ausgefallen in Folge der Teuerung; die Löhne sind noch immer nicht so, dass man davon eine Familie sorgenfrei ernähren könnte. Damit fällt man abends zwar müde, aber nicht eben zufrieden und sorgenfrei ins Bett, so viel kann ich aus Erfahrung mit den Menschen, die Vollzeit mit mir zusammengearbeitet haben, garantieren. Zwar solidarisieren wir uns mit den Pflegekräften, loben den “einfachen Arbeiter” und bejubeln beim Wandern in den Sommerferien die Bäuerinnen und Bauern, die bei sengender Hitze Heu zusammenrechen, doch die politischen Entscheide fallen nicht zu Gunsten der weniger verdienenden Menschen aus. Weder sind wir bereit, im Pflegesektor höhere Löhne zu zahlen, noch nehmen wir Anpassungen bei der Arbeitszeit oder beim Rentenalter in körperlich belastenden Berufen vor. Berufe, die tatsächlich an Attraktivität gewinnen, indem vermehrt Home Office, flexible Arbeitszeiten, Lohnerhöhungen oder mehr Aufstiegschancen möglich sind, erfahren wenig überraschend mehr Zulauf, während wir uns beim Büezerznüni über gestiegene Preise in der Gastronomie beklagen und in das Lamento über den Fachkräftemangel einstimmen.
Klar ist eine reale Steigerung der Wertschätzung von Berufen wie Pflege, Reinigung und Gastronomie mit höheren Investitionen in diese Branchen verbunden, und wer die Schweizer Bauern lobt, sollte im nächsten Schritt auch bereit sein, fairere Produzentenpreise zu zahlen – klar wächst das Geld auch nicht auf den Bäumen, so naiv bin ich nicht. Aber wenn wir weiterhin qualifiziertes Personal haben wollen, das sich zudem ein Leben ohne permanente Geldsorgen leisten kann, dann reicht es nicht, dieses kommunikativ und ästhetisch zu preisen. Dann müssen wir politisch die Weichen stellen, damit es in jedem Beruf in der Schweiz möglich ist, von einem 100%-Pensum gut und sorgenfrei zu leben, das muss es uns wert sein. Und ich hoffe sehr, dass jene Kräfte, die sich im Wahlkampf nun als Vox Populi und büezernah inszenieren, sich in der kommenden Legislatur dann auch entsprechend für genau diese Menschen einsetzen werden.
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