Meret Schneider: Don’t worry, old white men!
“…das wäre eine richtige Chance gewesen, aber er will gar nicht 100% arbeiten. Er meinte, maximal 80%, damit er genug Zeit für seine Kunst und für Freizeit habe.” – “Ja, das ist diese Generation. Gerade kürzlich war da ein Artikel, Snowflakes, die wollen Work Life Balance und weniger arbeiten und mehr Freizeit und Reisen und alles. Keiner will mehr arbeiten, nur noch Spass und Instagram.”
Der mitgehörte Dialog entlockte mir ein Lächeln. Ich sass einmal mehr im Zug, wo ich wie immer Menschen beobachte, Gespräche mithöre, Alltagsbeobachtungen mit unverhohlenem Vergnügen konsequent zu Ende denke und diese des Öfteren zu Kurzgeschichten ausformuliere. Neben dem ökologischen Aspekt ist dieser Kreativitätskatalysator einer der Gründe, warum ich stets die öffentlichen Verkehrsmittel nutze und innerliche Kohortenstudien durchführe, anekdotische Evidenzen zu popkulturellen Phänomenen sammle und mit einem liebevollen Blick die Ungelenkheiten menschlicher Interaktionen beobachte. So auch in dieser Situation und die beiden Herren mittleren Alters echauffierten sich noch eine ganze Weile über die fehlende Leistungsbereitschaft der Generation Z, die offenbar lieber mit dem Kind den Kletterturm, statt die standesgemässe Karriereleiter erklimmt. Eine Generation, die offenbar lieber mehr Zeit als mehr Geld hat und in Erlebnisse, statt in materielle Statussymbole investiert.
Wie immer, wenn es um allumfassende Urteile über Generationen geht, sind nicht nur die Urteile, sondern auch der Generationsbegriff als solches mit Vorsicht zu geniessen. In meinen Augen ein soziologisch reichlich fragwürdiges Konzept, das durch jenes der sozialen Millieus ersetzt werden müsste – schliesslich hat der 20-Jährige aus gutem Hause aus Wiedikon mit der 21-Jährigen aus einer Bauernfamilie in einem Walliser Bergdorf sowohl in Bezug auf Lebensrealität als auch in Bezug auf Wünsche, Träume und Vorstellungen wenig gemein, aber das wäre eine andere Diskussion.
Was ich jedoch auch beobachte und sich auch unmissverständlich in den Zahlen niederschlägt, ist der Rückgang der Vollzeit Berufstätigen und der steigende Wunsch nach Teilzeitarbeit. Dies einerseits aufgrund der wachsenden Gleichberechtigung in der Kindererziehung, aber auch bei Singles und kinderlosen Paaren, die lieber mehr Zeit für eigene Projekte, Reisen und all das haben möchten, was sich generell unter dem inflationär gebrauchten Begriff “Selbstverwirklichung” subsumieren lässt. Also lieber weniger Wohlstand, Statussymbole und materiellen Reichtum zu Gunsten eines erlebnisreicheren und erfüllenderen Lebens? Das wäre in meinen Augen an sich eine begrüssenswerte Entwicklung, zumal mir das Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg, Reichtum und Status schon immer suspekt und wenig erfüllend erschien – leicht gesagt aus einer so privilegierten Situation wie meiner heraus. Doch ist dem wirklich so? Meine Analyse führt zum Resultat: nein. Was wir uns hier im Rahmen der Selbstverwirklichung und Selbstfürsorge zuführen, ist schlicht alter Wein in neuen Schläuchen.
Ja, in der Tat wollen viele Jüngere eher weniger arbeiten, der 8-Stunden-Tag als gesellschaftliches Ideal und Norm hat ausgedient. Auch verlieren in einer wachsenden und sehr kaufkräftigen Zielgruppe klassische materielle Statussymbole an Wert – man erwirtschaftet sich Zeitwohlstand anstelle eines monetären Wohlstandes. Nicht verändert hat sich jedoch der Statusaspekt und jener des kulturellen Kapitals, das man sich dadurch erwirtschaftet – in der genau gleichen protestantischen Leistungslogik, wie man davor möglichst schnell eine Karriereleiter empor gehastet ist.
Mit dem Einzug von Social Media und der zunehmenden Öffentlichkeit des Privaten, bestimmt der Blick von Aussen und damit die wenn auch nur gefühlte Beurteilung der Freizeit- und Lebensgestaltung zunehmend auch die Entscheidungen bezüglich Lebensführung. Dass man etwas erreicht hat, sich sein Glück erwirtschaftet und in seinem Leben angekommen ist, zeigt man nicht länger nur durch eine schöne Wohnung, teure Ferien oder Markenkleidung, sondern durch den bewussten und immer auch kommunizierten Verzicht auf all dies. Minimalismus statt teurer Möbel in der gut angebundenen Wohnung im Grünen, Werken am Eigenheim und im Garten, statt Vollzeitjob bestimmen die Idealvorstellung viele jüngerer Menschen und auch ich kann mich davon nicht freisprechen: eine Wohnung im Grünen mit Garten, ein 80% -Job und viel Zeit zum Wandern – auch in meinen Augen eine attraktive Vorstellung.
Was sich im Zuge dessen jedoch als Illusion entpuppt, ist die scheinbare Freiheit vom Leistungsgedanken und dem sich weiter drehenden Karussell des Wachstumsparadigmas. Auch Zeitwohlstand muss man sich leisten können, muss erwirtschaftet werden und gern würde ich den älteren Herren eben dies vor Augen führen: die Startup gründenden Businesspunks in Co-Workingspaces mit Tischtennistisch und free Latte Macchiato sind keineswegs Vertreter*innen einer Generation Schlendrian. Sie streben genauso emsig dem Wohlstand, Status und dem kulturellen Kapital entgegen wie Ihre Väter – nur dass es sich dabei um Zeitwohlstand handelt, um die Möglichkeit, auf Annehmlichkeiten zu verzichten und sich durch Kommunikation derselben von der breiten Masse abzuheben.
Mehr Zeit, statt mehr Materielles – das stimmt mich erstmal positiv und auch eine grundsätzliche Leistungsbereitschaft ist mir sympathisch. Ich hoffe jedoch sehr, dass wir unseren erwirtschafteten Zeitwohlstand nicht mit sozialmedialer Kommunikation unserer scheinbaren Verzichtsethik und unseres Daseins als verantwortungsvolle Menschen verbringen, wie die älteren Herren nebenan von ihrem Geldwohlstand vermutlich ebenfalls wenig Gebrauch machten, sondern ihn auf Banken deponierten. Denn was wir uns vor Augen führen müssen: Zeitwohlstand, und das ist in meinen Augen eine gute Nachricht für eine gerechtere Gesellschaft, lässt sich nicht vererben.
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One thought on “Meret Schneider: Don’t worry, old white men!”
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Pierre Bourdieus Konzept des kulturellen (und sozialen) Kapitals auf Zeitwohlstand anzuwenden, hat mich auf Anhieb überzeugt – ein spannender und innovativer Gedanke. Allerdings gehe ich mit dem Schluss nicht unbedingt einig, dass sich dieser nicht vererben lässt. Denn Bourdieus Erkenntnis ist doch, dass kulturelles und soziales Kapital wie ökonomisches vererbt werden kann und darum auch vererbt wird.