Ich bin – oder besser, ich war – ein Migros-Kind. Ob die Glacéstängeli mit den Affen und Seelöwen oder der legendäre Eistee: mit der Migros sind Kindheitserinnerungen verbunden, die mich beim Anblick der Glacé-Tiere noch immer das Chlor und das Frittieröl der Badi-Pommes Frites riechen lassen, wenn ich sie sehe. Trotzdem meide ich die Migros inzwischen, und dies aus gutem Grund. Nicht nur haben die vielen Entlassungen und die fragwürdige Mitarbeiterpolitik im Zuge des Verkaufs der Sport-X und der Elektronik- und Gartenfachgeschäfte sichtbare Kratzer in der sozialen Fassade der Genossenschaft hinterlassen; auch die Strategieänderung in Richtung Preissenkungen auf Kosten der Tiere und der Umwelt hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack.
Die Kundinnen und Kunden hätten mit zu hohen Preisen die gescheiterte Strategie der Migros finanziert, liess Marco Irminger, Chef der Migros, in der Rundschau verlauten. Der Verlust von über 5% Marktanteil in den letzten zehn Jahren führt er auf strategische Fehler und wenig Sensibilität für veränderte Kundenbedürfnisse zurück. Tiefere Preise und der Trend zu kleineren Läden sollen nun diesem Kundenbedürfnis gerecht werden und das Migros-Schiff wieder in sichere Gewässer steuern, ungeachtet dessen, dass andere Detailriesen erfolgreich in diesen Gewässern fischen, auch wenn sie gegen den Strom der günstigen Preise und billigen Importe segeln. Konkret bedeuten die Ankündigungen des Migros-Chefs eine Preisoffensive mit Vergünstigungen auf 60 Artikel aus dem Gemüse- und Fruchtsortiment per sofort und Preissenkungen auf über 1000 Artikeln bis im nächsten Jahr.
Hochgerechnet auf den Gesamtumsatz ergeben die Preissenkungen einen Rabatt von 3%, der sich über die nächsten vier bis fünf Jahre um bis zu zwei Milliarden auf den Umsatz auswirken wird. Die Bauern würden, so die Ankündigung, preislich nicht unter Druck gesetzt. Das sei ein Versprechen, betonte Irminger gegenüber der Rundschau, was erstmal aufatmen lässt. Bereits der nächste Satz lässt den Atem aber wieder stocken: Druck erhöhen will die Migros nämlich bei den internationalen Lieferanten. Dass dies nicht ohne Abstriche bei Nachhaltigkeit und Tierwohl funktioniert, versteht sich von selbst und wird von der Migros konsternierenderweise auch gleich selber in die Strategie eingepreist und entsprechend kommuniziert: Ein M nachhaltiger, ein M tierfreundlicher – diese Slogans dürften der Vergangenheit angehören.
So hat die Migros das Ziel aufgegeben, bei Importfleisch gleiche Mindeststandards zu garantieren wie bei Schweizer Fleisch. Importierte Bio-Artikel werden entgegen der ursprünglichen Planung nun doch nicht den strengeren Bio-Suisse-Richtlinien unterstellt. Mit geschickten, marketingstrategischen Statements werden diese fundamentalen Ziele über Bord geworfen: Die Sache wäre zu teuer gekommen. Migros informiere die Kundschaft über Ökologie und Nachhaltigkeit im Sinne von Aufklärung, aber: «Wir wollen das Volk nicht erziehen. Wir verkaufen das, was nachgefragt ist.»
Nun denn, es bleibt zu beobachten, ob dies tatsächlich der postulierten Nachfrage entspricht. Glücklicherweise scheint Coop noch nicht auf diesen Zug aufgesprungen zu sein und hält an Nachhaltigkeits- und Tierwohlzielen bis dato fest. Und bei der deutschen Konkurrenz, der aufgrund der günstigeren Preise oft zu Unrecht das Image eines weniger tier- und umweltfreundlichen Sortiments und generell geringerer Standards bei der Lebensmittelproduktion anhaftet, lässt sich gar ein Trend in die entgegengesetzte Richtung feststellen. Seit 2023 stammt beispielsweise bei Aldi Suisse sämtliches Rinds- Kalbs- und Schweinefleisch bei Standard-Eigenmarken vollständig aus der Schweiz. Importiertes Pouletfleisch stammt aus Betrieben, bei denen die Produktionsrichtlinien über der Schweizer Gesetzgebung liegen, d.h. mindestens die Tierwohlanforderungen des Programms BTS – Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme erfüllen. Bis Ende 2025 soll auch tiefgekühltes Pouletfleisch zu 100% den Schweizer Tierschutzstandards entsprechen, inklusive Importfleisch. Auch das vegetarische und vegane Sortiment will Aldi im Gegensatz zur Migros ausbauen und den Milchbauern höhere Produzentenpreise zahlen gemäss Ankündigung.
Verkennt also die deutsche Detailhändlerin die Zeichen der Zeit, wenn sie eine ambitioniertere Nachhaltigkeitsstrategie präsentiert und das Bio- und Labelsortiment ausbaut? Ich hoffe nicht und hoffe ebenfalls, dass auch Coop sich nicht vom Schlingerkurs der Migros vom Weg in Richtung mehr Tierwohl und Ökologie abbringen lässt. Wir Konsumierenden, und davon bin ich überzeugt, sind durchaus bereit, auf die 3% Rabatt zu verzichten, wenn klar kommuniziert wird, dass der geringe Mehrpreis tatsächlich den Tieren, den Produzierenden und der Umwelt zugute kommt. Und vielleicht heisst es beim Tierwohl bald nicht mehr ein M tierfreundlicher, sondern ein A ambitionierter.
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