Meret Schneider: Europa, TikTok, und die Resignation der Beschallten

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Die Europawahl ist Geschichte und wurde entgegen meiner Erwartungen in Schweizer Medien erstaunlich wenig besprochen. Auch in meinem Umfeld fanden sich kaum Leute, die sich dafür im Vorfeld interessierten oder im Nachgang aus dem Tritt bringen liessen. Rechtsruck, klar, AFD, zu erwarten, geht uns aber irgendwie nichts an, weil wir sind ja in der Schweiz.

Während sich einige Feuilletonistinnen und Feuilletonisten in fein ziselierten Analysen verstiegen, die wahlweise TikTok, die junge Generation, “den Osten” oder fehlende Perspektiven für die Stärke rechtsextremer Parteien verantwortlich machten und demokratischen Parteien ein zu schwaches Narrativ und wenig Präsenz in den sozialen Medien vorwarfen, um die junge Generation abzuholen, blieb die breite Bevölkerung gefühlt wenig berührt. Als würden uns gesamteuropäische Bewegungen nicht tangieren, solange wir im Laden mit Franken statt Euros bezahlen und als liessen sich diese Umwälzungen der Gesinnung einer breiteren Bevölkerung nicht auch in der Schweiz beobachten.

Aber auch die Analysen im europäischen deutschsprachigen Raum liessen mich enttäuscht zurück. Während sich einmal mehr an der jungen Generation abgearbeitet wurde, in der die AFD nach den vorangegangenen Umfragen wenig überraschend sehr stark war, und die Präsenz der extremen Rechten auf TikTok als Erklärung herangezogen wurde, liessen die Analysen in meinen Augen jede Selbstreflexion vermissen.

Klar, die Ampel-Regierung hat sich in jüngster Vergangenheit nicht im besten Licht präsentiert und die Kommunikation “Rechtsruck verhindern” ist keine Perspektive, die junge Menschen motiviert, jemanden zu wählen, dem sie aktuell die Verantwortung beimessen für eine gesellschaftliche Situation der multiplen Krisen, denen man als Individuum in keinster Weise Herr werden kann.

Wenn dann in dieser Gemengelage eine komplett andere Partei auf einer Trendplattform wie TikTok rechtsextreme Positionen in Memes und witzige Reime (mehr Geld für die Oma, statt für Sinti und Roma – menschenverachtend, aber leider gut) verpackt und medial der Aufstieg und Fall des Robert H. inszeniert wird, ist es zunehmend attraktiv, nur schon für eine neue Perspektive etwas radikal anderes als das Bestehende zu wählen. Nicht, weil man sich mit den Positionen und deren Konsequenzen der AFD fundiert auseinandergesetzt hätte, sondern aus einer gefühlten Ohnmacht, Perspektivlosigkeit und Resignation der Beschallten heraus.

Pandemie, Krieg, Inflation und eine stetige Berichterstattung von Leitmedien zu Versagen und Unfähigkeit der aktuellen Regierung liessen bei vielen das Gefühl zurück: Bloss nicht so weiter, dieses Schiff bringt uns nicht unbeschadet durch unwegsame Gewässer. Und damit haben sie tatsächlich recht, denn einen massiven Sturm übersteht das stärkste Schiff nicht unbeschadet – aber dass die Passagiere gerettet wurden und das Schiff noch schwimmt, wird gern übersehen. Denn im Rückblick hat die damals neue Regierung das Krisenmanagement im internationalen Vergleich richtig gut gemeistert und auch ein im Vorfeld geleaktes Heizungsgesetz von Robert Habeck hatte Hand und Fuss – wurde aber medial tatsächlich falsch wiedergegeben.

Klar sind Medien die vierte Gewalt und haben die Aufgabe, politische Arbeit kritisch zu begleiten und genau hinzuschauen – in einer Demokratie ist dies essentiell. Aber sich stets in sensationsheischender Manier auf Verfehlungen zu stürzen, Regierungsverantwortliche in Krisensituationen zu zerpflücken und auf der Jagd nach Klicks auch einmal das ein oder andere Detail wegzulassen, hat damit nichts mehr zu tun. Die Errungenschaften der aktuellen Regierung, die Verhinderung viel schlimmerer Situationen, wie man sie in anderen Ländern beobachten konnte und die wichtige Rolle im europäischen Kontext erfuhren in der Berichterstattung kaum Berücksichtigung und hinterliess das Bild einer kompletten Versagertruppe ohne Richtung und Perspektive.

Viel der medialen Kritik war berechtigt, aber weder in ihrer Ausschliesslichkeit, noch in ihrer Frequenz. Wenn einer jüngeren Generation permanent das Gefühl der Resignation und fehlenden Selbstwirksamkeit vermittelt wird (es wird alles schlimmer und die Regierung tut nichts oder das Falsche), hinterlässt dies Spuren, die sich andere Kräfte zu Nutze machen. Ich mag falsch liegen mit meiner Einschätzung, aber ich halte es für eine massive Unterschätzung der Jungen, zu denken, ein farbiges Video mache jemanden zum Rechtsradikalen. Ich halte die Entwicklung für eine logische Folge aus einer gefühlten Hilflosigkeit, dem Überdruss der immer gleichen Berichterstattung und dem Wunsch “irgendetwas” anders zu machen.

Wenn dieser Wunsch in den entsprechenden sozialen Medien von Rechtsextremen bedient wird, schlägt sich das in den Wahlen nieder – meines Erachtens aber nicht, weil diese Menschen an die AFD “verloren” sind, im Gegenteil: man kann sie zurückholen. Dafür braucht es aber keinen Olaf Scholz, der auf TikTok das Bundesbudget rappt, sondern eine klare Kommunikation darüber, wo man hin will und welches Leben man sich vorstellt – ein konstruktives, hedonistisches, auch im Anblick globaler Krisen. Und es braucht eine mediale Berichterstattung, die kritisiert statt zerfleischt und auch Errungenschaften und Positives ins Schaufenster stellt. In Deutschland, aber auch in der Schweiz.


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