Meret Schneider: Höfesterben in der Schweiz – Lernen von Brasilien?

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

«Höfesterben in der Schweiz, in Brasilien wollen alle Bauern werden”, lautete ein Artikel in «20 Minuten», worauf die unterschiedlichen Gegebenheiten in Brasilien und der Schweiz beleuchtet wurden und dem Schweizer Bauernnachwuchs primär unterstellt wurde, ihnen sei “die Arbeit der Eltern zu streng”. In Brasilien hingegen ströme eine “Armee” junger Bäuerinnen und Bauern in die Landwirtschaft, auch, weil das Land vieles anders mache als die Schweiz.

Sollten wir also von Brasilien lernen und ähnliche Voraussetzungen für Landwirtinnen und Landwirte schaffen wie das südamerikanische Agrarexportland? Dafür lohnt sich ein genauer Blick auf die Voraussetzungen, die Folgen und die tatsächlichen Gründe für das Höfesterben in der Schweiz, das gemäss Bundesamt für Statistik ja tatsächlich existiert: 2023 fiel die Zahl der Schweizer Landwirtschaftsbetriebe auf ein Rekordtief von weniger als 48’000 Betriebe. Vor 40 Jahren waren es noch doppelt so viele.

Sich nun aber agrarpolitisch an Brasilien zu orientieren, um den Bauernberuf wieder attraktiver zu machen und das Höfesterben aufzuhalten, ist ungefähr so sinnvoll, wie dem Beizensterben entgegenzuwirken, indem man sich vermehrt an Mc Donalds orientiert – nicht zwingend wünschenswert.

Denn warum strömen in Brasilien so viele junge Menschen in die Landwirtschaft? Die Gründe mögen vielfältig sein, aber einige seien hier kurz genannt: Einer der Antriebe ist mit Sicherheit die schnelle Expansion der Branche. Brasilien übernahm gerade die weltweit führende Position von den USA als Exporteur wichtiger Agrarprodukte wie Sojabohnen, Poulet und bald auch Mais. Dafür wird im grossen Stil Regenwald gerodet; eine staatliche Regulierung ist praktisch nicht existent – im Gegenteil: Der Agrarboom auf Kosten der Umwelt und des immer knapper werdenden Regenwaldes ist sogar staatlich gewünscht und wird gefördert. Jährlich kommt in Brasilien Rodungsland im Umfang der doppelten Schweizer Nutzfläche hinzu, die Folgen sind Trockenheit, Erosion und Grundwasserknappheit.

Auch existiert ein Programm in Brasilien, das junge Menschen explizit für Führungsrollen im Agrarsektor ausbildet: im Gegensatz zur Schweiz wird der Bauern-, dort eher Farmerberuf genannt, als Möglichkeit begriffen, richtig reich zu werden, was als eine grosse Motivation identifiziert werden muss. Zwar sind Familien mit kleinen Höfen und Betrieben in Brasilien oft von Armut betroffen und können kaum existenzsichernd wirtschaften; aufgrund der 250-fachen landwirtschaftlichen Nutzfläche wie in der Schweiz existiert jedoch die Möglichkeit, massiv grosse Betriebe zu bewirtschaften und komplett auf industrielle Massenproduktion zu setzen – mit lukrativen Folgen für die Hofbesitzer. So gibt es beispielsweise riesige Farmen mit Hunderten Angestellten, deren Besitzer zu Milliardären wurden und heute in Privatjets herumreisen wie Soja-Mogul Blairo Maggi und Zucker-Magnat Rubens Ometto.

In der Schweiz hingegen ist klar: Mit dem Beruf der Bäuerin oder des Bauern wird man nicht schwerreich, besonders nicht, wenn man einen kleineren Betrieb umwelt- und tiergerecht bewirtschaftet: Aufgrund der höheren Produktionskosten für eine ökologischere und tiergerechtere Arbeitsweise, die von den Produzentenpreisen noch immer nicht abgefedert werden, macht man diesen Beruf tatsächlich primär aus Herzblut und Überzeugung – sicher nicht aus finanziellem Interesse. Die Möglichkeit, in der Schweiz derart auf Expansion und rücksichtslose Massenproduktion zu setzen, besteht nur schon aus Gründen der Fläche, aber auch aufgrund der staatlichen Regulierung nicht – und das ist auch gut so. Monokulturen im grossen Stil, Pouletmastanlagen des Grauens und Rinder in Fedlots, wie sie in Brasilien existieren und zu guten Einnahmen auf Kosten der Tiere und der Umwelt gute Einnahmen generieren, fehlen in der Schweiz glücklicherweise – und das sollten wir zu schätzen wissen.

Was aber könnte ein Fazit aus dem Vergleich und der Situation in der Schweiz sein, wenn nicht eine komplette staatliche Deregulierung und Förderung der Massenproduktion wie in Brasilien (die Agrarindustrie-Lobby pumpt dort Geld in Telenovelas, Filme, Bücher und in die Pop-Musik mit Agronejo, einem Mix aus traditioneller Sertanejo-Country-Musik mit Elektromusik und Agrar-Themen)?

Meines Erachtens wäre auch hier die Schweiz politisch und staatlich gefordert – allerdings nicht durch Finanzierung und Bewerbung von John Deere-Traktoren oder ähnlichem, sondern in einem ersten Schritt durch Frustrationsminimierung. Die Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte hat in der Schweiz durch diverse Kurswechsel und immer schwieriger zu durchschauenden administrativen Vorgängen für massiven Frust und Politikverdrossenheit auf Seiten der Bauern geführt. In einem ersten Schritt wäre es meines Erachtens wichtig, das System Agrarpolitik einmal von der Pike auf neu zu denken und zu entschlacken – aufwändig, komplex, aber vielleicht vielversprechender als die 150. Reform. Direktzahlungen werden immer eine wichtige Rolle spielen, aber Teil der Agrarpolitik sollte auch eine Festlegung minimaler Produzentenpreise und eine stärkere Regulierung der Handelspraktiken marktmächtiger Abnehmer sein. Dem Detailhandel und der verarbeitenden Industrie kommt in diesem Segment eine wichtige Rolle zu.

Wenn eine politische Vision existiert, welche Agrarproduktion wir in der Schweiz haben und fördern wollen, wird es auch gelingen, politische Weichen entsprechend zu stellen. Dabei kommt aber auch den Branchenverbänden eine grosse Verantwortung zu: Wir können nicht im gleichen Atemzug das Kleinbauernsterben beklagen und dabei den Import von tierquälerisch erzeugten Produkten zu Spottpreisen aufgrund der Freiheit der Konsumierenden begrüssen.

Der Beruf des Bauern oder der Bäuerin ist in meinen Augen definitiv nach wie vor attraktiv – gemäss SBFI zählt Landwirt(in) noch immer zu den Top Ten der meist gewählten Berufe in der Schweiz – aber wir müssen eine Perspektive bieten, mit diesem Beruf mehr als nur ein Wirtschaften am Existenzminimum zu ermöglichen, wenn man nicht stark expandiert. Konkret würde dies bedeuten: Mehr staatliche Gelder für Produktionssysteme, die das Tierwohl stärker berücksichtigen, ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Kein Import von Produkten, die in der Schweiz aufgrund der Tierschutz- und Umweltgesetzgebung so nicht erzeugt werden dürften. Stärkeres in die Pflicht nehmen der marktmächtigen Akteure in ihren Handelspraktiken, namentlich der Grossverteiler, bezüglich Aktions- und Werbepolitik. Dies meine kurz und knappen Lösungsvorschläge, einfach einmal ganz naiv in die verhärtete Debatte um Agrarpolitik eingespiesen – in der Hoffnung, sie mögen aufgegriffen oder diskutiert werden.


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