Meret Schneider: Kein Krieg ist kein Privileg

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Eigentlich wollte ich einen Rückblick zur Frühlingssession schreiben, zu wichtigen, agrarpolitischen Geschäften, die ich weiter intensiv verfolge und zu zwei meiner Vorstösse, die vom Parlament angenommen wurden. Zu aktuellen Entwicklungen im Zuge der Bauernproteste und einer Aufschlüsselung, wie viel von einer Milchpreiserhöhung, wie sie nun beschlossen wurde, tatsächlich im Portemonnaie der Bäuerinnen und Bauern ankommt. Diesen Text werde ich schreiben – allerdings erst nächste Woche.

Im Zuge der Lebensmittelrettung und meinem Engagement gegen Foodwaste bin ich immer wieder in Kontakt mit Geflüchteten, aktuell besonders aus der Ukraine. So war es auch kürzlich, als ich mit einer ukrainischen Frau ein alltägliches Gespräch führte und wir dann doch, wie so oft, auf den Krieg zu sprechen kamen. Wie immer, wenn es um Krieg im Gespräch mit Betroffenen geht, weiss ich nicht so richtig, was ich sagen soll, was die Menschen erzählen möchten und was nicht, ob ich das Thema eher meiden oder eben direkt ansprechen soll. Kennt man das Gegenüber nicht genug, befindet man sich oft permanent in einem Gesprächsmodus auf Samtpfoten, möglichst leise, möglichst ohne Wunden aufzureissen und in seiner wohlstandsverwöhnten Sprecherinnenposition irgendwie nicht berechtigt, dieses Gespräch zu führen. In diesem Gesprächsmodus meinte ich in einem Nebensatz, dass ich natürlich enorm privilegiert sei, nie Krieg oder Hunger erlebt zu haben und mir diese Schrecken daher kaum vorstellen kann. Die Frau schaute mich erstaunt an und meinte: Keinen Krieg erlebt zu haben, ist doch kein Privileg. Das ist ein Menschenrecht.

Wir sprachen danach wieder über Alltägliches, Schule, Arbeit und die Nichtverfügbarkeit von Smetana in der Schweiz. Doch dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf und bewog mich, über unseren und damit auch meinen Privilegiertheitsdiskurs in diversen gesellschaftlichen Belangen nachzudenken. Selbstverständlich habe ich im Geburtslotto den Hauptgewinn gezogen: Wohlstand, gute Bildung, weisse Hautfarbe – rein statistisch die allerbesten Voraussetzungen für ein glückliches, zufriedenes Leben und dafür, die eigenen Wünsche und Träume umsetzen zu können. Und tatsächlich bin ich mir dessen immer wieder bewusst – in Anbetracht der Kriege und Krisen in jüngster Vergangenheit mehr denn je. Dieses Bewusstsein geht stets mit dem fast schuldvollen Gedanken einher, keinen Krieg und Mangel zu kennen, sei ein ungerechtfertigtes Privileg, etwas, das ich gerechterweise eigentlich abgeben müsste – schliesslich habe ich nichts dafür getan. Dieser simple Satz: Kein Krieg zu erleben ist kein Privileg, sondern ein Menschenrecht, ändert alles. Wenn wir Frieden und Wohlstand als Privileg begreifen, erklären wir den Zustand von Mangel und Krieg damit zum nicht markierten Normalzustand. Dann sind Krieg, Hunger und Notsituationen die Normalität, von der wir Privilegierten nicht betroffen sind und uns fragen, ob wir dieses Privileg nicht abgeben müssten. Dem Privileg inhärent ist schliesslich, dass in einer Gesellschaft nie alle privilegiert sein können – das geht per Definition nicht. Im Privilegiertheitsdiskurs geht es stets darum, wer von Privilegien profitiert, wer sie sich sichern kann und wer sie gegebenenfalls abgeben muss. Selten geht es darum, nicht

Privilegierten möglichst alle Privilegien zugänglich zu machen – es können eben nicht alle privilegiert sein. Mit den Menschenrechten verhält sich das anders. Es herrscht ein gesellschaftlicher Konsens, dass allen Menschen grundsätzlich Menschenrechte zustehen, auch wenn es sich in der Realität nicht so verhält. Indem wir “nicht von Krieg und Mangel betroffen sein” als Menschenrecht und nicht als Privileg definieren, resultiert daraus auch ein gesellschaftlicher Imperativ: Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Menschenrechte eingehalten werden. Damit haben wir die Pflicht, uns für Geflüchtete einzusetzen, ihnen ein Leben ohne Mangel zu ermöglichen und uns gegen Krieg im Rahmen unserer Möglichkeiten einzusetzen. Und es befreit uns von dem schuldbewussten Gefühl, Träger ungerechtfertigter Privilegien zu sein, sondern erklärt den Zustand von Frieden und Wohlstand zum Normalzustand. Einem Normalzustand, den es möglichst weltweit zu etablieren gilt. Dafür muss kein Privilegierter sein Privileg abgeben, sondern sich schlicht in seinem Rahmen und Umfeld für Menschenrechte einsetzen.


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